BAG: Kündigung bei nicht rechtzeitiger Massenentlassungsanzeige

27.03.2006

Bundesarbeitsgericht

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG muss ein Arbeitgeber der Agentur für Arbeit Anzeige

erstatten, bevor er innerhalb von 30 Kalendertagen eine im Gesetz näher genannte

Anzahl von Arbeitnehmern entlässt. Bisher galt nach der ständigen Rechtsprechung

des Bundesarbeitsgerichts, dass die Anzeige an die Arbeitsverwaltung rechtzeitig vor

der tatsächlichen Beendigung der Arbeitsverhältnisse erfolgen musste. Sie konnte

deshalb auch noch nach dem Ausspruch der Kündigungen erfolgen. Mit Urteil vom

27. Januar 2005 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie

98/59/EG (MERL), die durch die §§ 17 ff. KSchG in das

deutsche Arbeitsrecht umgesetzt worden ist, in der Rechtssache „Junk“ entschieden,

die Kündigungserklärung des Arbeitgebers sei das Ereignis, das als „Entlassung“ im

Sinne der MERL gilt. Mit den sich aus dieser Entscheidung ergebenden Anpassungsproblemen

für das deutsche Massenentlassungsrecht hatte sich das Bundesarbeitsgericht

erstmals näher auseinander zu setzen.

Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts ist dem EuGH grundsätzlich gefolgt. Er

hat im Entscheidungsfall die Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG richtlinienkonform

ausgelegt. Danach muss nunmehr die Anzeige bei der Agentur für Arbeit rechtzeitig

vor dem Ausspruch der Kündigungen erfolgen. Ob eine nicht rechtzeitige Anzeige

zur Unwirksamkeit der Kündigung führt oder auch weiterhin nur die Entlassung

nicht vollzogen werden kann, hat der Senat dahinstehen lassen. Eine Unwirksamkeit

der Kündigung kann hier schon deshalb nicht angenommen werden, weil dem kündigenden

Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist. Arbeitgeber durften zumindest

bis zum Bekanntwerden der zitierten Entscheidung des EuGH auf die ständige

Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und die durchgängige Verwaltungspraxis

der Agenturen für Arbeit vertrauen, die eine Anzeige vor der tatsächlichen Beendigung

des Arbeitsverhältnisses ausreichen ließen. Einem kündigenden Arbeitgeber

können nicht rückwirkend Handlungspflichten auferlegt werden, mit denen er nicht zu

rechnen brauchte und die er nachträglich nicht mehr erfüllen kann.

Der Kläger war seit 1994 bei der Schuldnerin, die 23 Arbeitnehmer beschäftigte, als

Arbeiter tätig. Einen Betriebsrat gab es im Betrieb nicht. Die Schuldnerin kündigte mit

Schreiben vom 30. Juli 2004 das Arbeitsverhältnis - ebenso wie die Arbeitsverhältnisse

aller anderen Arbeitnehmer - ordentlich. Nachdem über das Vermögen der

Schuldnerin am 1. August 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte

zum Insolvenzverwalter bestellt worden war, kündigte dieser alle Arbeitsverhältnisse

erneut mit Schreiben vom 2. August 2004. Die Schuldnerin bzw. der Beklagte zeigten

die zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgesehenen Entlassungen der Agentur für

Arbeit am 2. August bzw. 26. August 2004 an. Diese erteilte am 9. August bzw.

10. September 2004 entsprechende Bescheide.

Der Kläger hat die Kündigung ua. wegen Verstoßes gegen §§ 17, 18 KSchG für unwirksam

gehalten. Er hat die Auffassung vertreten, die Schuldnerin bzw. der Beklagte

hätten die Massenentlassung bei der Arbeitsverwaltung vor dem Ausspruch

der Kündigung anzeigen müssen.

Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen. Das BAG hat die Revision des Klägers

zurückgewiesen.

Bundesarbeitsgericht: Urteil vom 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 –

 

Hess. Landesarbeitsgericht: Urteil vom 20. April 2005 – 6 Sa 2279/04 -

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