BAG: Massenentlassungsverfahren - Folgen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG

28.01.2022

Nr. 4/22

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens im Zusammenhang mit der Frage angeru-fen*, welche Sanktion ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG** nach sich zieht.

Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in dem am 1. Oktober 2019 über das Vermögen der Insol-venzschuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren. Der Kläger war seit 1981 bei der Insolvenz-schuldnerin beschäftigt.

Am 17. Januar 2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenz-schuldnerin zum 30. April 2020 beschlossen. In diesem Zusammenhang war die Entlassung aller zuletzt noch 195 beschäftigten Arbeitnehmer beabsichtigt. Aufgrund des Stilllegungs-beschlusses fanden mit dem bei der Insolvenzschuldnerin bestehenden Betriebsrat Verhand-lungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans statt. In Ver-bindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Falle einer Massenent-lassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt. Entge-gen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massen-entlassungen (MERL)*** in nationales Recht umsetzt, wurde jedoch der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebs-rat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt. Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, deren Eingang die Agentur für Arbeit am 27. Januar 2020 bestätigte. Am 28. Januar 2020 erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zum 30. April 2020. Noch für den 28./29. Januar 2020 beraumte die Agen-tur für Arbeit Beratungsgespräche für 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin an.

Mit seiner Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom 28. Januar 2020 gel-tend gemacht. Die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL. Diese enthielten nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stellten eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung dar. Die Übermittlungs-pflicht solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit so früh wie möglich Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Sie habe von daher arbeitnehmerschützenden Charakter. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. 2

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit Beschluss vom heutigen Tag den Ge-richtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ersucht, die Frage zu beantworten, wel-chem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL dient. Hiervon hängt nach Auffassung des Senats ab, ob § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der unionsrechtskonform in gleicher Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL auszulegen ist, ebenso wie andere, den Arbeitnehmerschutz - zumindest auch - bezweckende Vorschriften im Massenentlas-sungsverfahren als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB anzusehen ist. In diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 6 AZR 155/21 (A) -

Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24. Februar 2021 - 17 Sa 890/20 –

Hinweise:

*Der genaue Wortlaut der Frage kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse" eingesehen werden.

**§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG

Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Be-triebsrat zuzuleiten; sie muß zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Anga-ben enthalten.

***Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL

Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabsatz 1 Buch-stabe b) Ziffern i) bis v) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln.

Verlagsadresse

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Aachener Straße 222

50931 Köln

Postanschrift

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Postfach 27 01 25

50508 Köln

Kontakt

T (0221) 400 88-99

F (0221) 400 88-77

info@rws-verlag.de

© 2024 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Erweiterte Suche

Seminare

Rubriken

Veranstaltungsarten

Zeitraum

Bücher

Rechtsgebiete

Reihen



Zeitschriften

Aktuell