Bundesgerichtshof hebt Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf

24.03.2006

Bundesgerichtshof

Das Landgericht Passau hat mit Urteil vom 10. Juni 2005 gegen den

Verurteilten gem. § 66 b Abs. 1 StGB die nachträgliche Sicherungsverwahrung

angeordnet und ihn zugleich in die Unterbringung in einem psychiatrischen

Krankenhaus überwiesen.

Der 72jährige Verurteilte leidet seit einer Kopfverletzung in seiner Jugend

an einer organischen Persönlichkeitsstörung; ein Hirnsubstanzdefekt führt

bei ihm zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. Nachdem gegen ihn im

Jahr 1994 eine Be-währungsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern

verhängt worden war, verurteilte ihn das Landgericht Passau am 16. März 1999

wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei

Jahren und sechs Monaten (sog. Anlassverurteilung). Nach den

Urteilsfeststellungen hatte der Verurteilte mit der 12jährigen Tochter

seiner Geliebten gegen deren Widerstand den ungeschützten Geschlechtsverkehr

durchgeführt.

Der Verurteilte verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Er

verblieb auch nach Strafende in der Justizvollzugsanstalt, da das

Landgericht Bayreuth mit Be-schluss vom 10. April 2002 seine dortige

Unterbringung nach dem Bayerischen Ge-setz zur Unterbringung besonders

rückfallgefährdeter Straftäter (BayStrUBG) ange-ordnet hatte. Nachdem der

Vollzug der Unterbringung im Dezember 2003 für die Dauer eines Jahres

ausgesetzt worden war und der Verurteilte weisungsgemäß Auf-enthalt in einem

Seniorenheim genommen hatte, kam es dort im Januar und Februar 2004 zu

mehreren sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen. Der

Verur-teilte wurde daraufhin erneut in den Unterbringungsvollzug genommen.

Auf seine Verfassungsbeschwerde erklärte das Bundesverfassungsgericht mit

Urteil vom 10. Februar 2004 das BayStrUBG wegen fehlender

Gesetzgebungskompetenz für mit dem Grundgesetz unvereinbar (BVerfGE 109,

190). Der Verurteilte befindet sich nunmehr in einem psychiatrischen

Krankenhaus. Wegen der Vorfälle in dem Senio-renheim ist gegen ihn vor dem

Landgericht Hof auch ein Sicherungsverfahren gem. §§ 413 ff. StPO wegen

sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen an-hängig.

Das Landgericht Passau hat mit seiner Anordnung nachträglicher

Sicherungsver-wahrung an die Verurteilung vom 16. März 1999 wegen

Vergewaltigung angeknüpft. Als neu hervorgetretene Tatsachen, die die

erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten belegen, hat es gewertet, dass

der Verurteilte während der Haftzeit seine Strafta-ten geleugnet und

jegliche Sexualtherapie verweigert hat, und er aufgrund des wäh-rend des

Strafvollzuges fortgeschrittenen hirnorganischen Abbaus nicht in der Lage

ist, Grenzen im Sexualbereich zu erkennen. Die Vorfälle in dem Seniorenheim

spie-gelten dies wider. Die zugleich ausgesprochene Überweisung in die

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei aufgrund des – von

den angehörten Sachverständigen bestätigten – Behandlungsbedarfs des

Verurteilten gerechtfertigt.

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts Passau auf die

Revision des Verurteilten aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und

Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die nachträgliche An-ordnung von Sicherungsverwahrung gem. § 66 b StGB setze

neue Tatsachen vor-aus, die nach der Anlassverurteilung und vor Ende des

Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt geworden seien. Die

sexuellen Übergriffe des Verurteilten ereigneten sich demgegenüber nicht

während des Strafvollzuges, sondern in einem Seniorenheim; sie hätten daher

außer Betracht zu bleiben. Der Gesetzgeber habe zudem durch eine

Übergangsregelung (Art. 1 a Satz 2 EGStGB) ausdrücklich klar-gestellt, dass

während der landesrechtlichen Unterbringung hervorgetretene Um-stände keine

neuen Tatsachen im Sinne von § 66b StGB darstellen. Hinsichtlich der

verbleibenden Umstände – Therapieverweigerung, Hirnsubstanzdefekt – sei

nicht hinreichend festgestellt, ob und inwieweit diese bereits im Zeitpunkt

der Anlassverur-teilung erkennbar gewesen seien. So stelle insbesondere eine

Therapieverweige-rung dann keine neue Tatsache dar, wenn der Verurteilte

seine Taten durchgehend bestritten habe, das Ursprungsgericht daher nicht

habe davon ausgehen können, dass er sich einer Therapie unterziehen werde.

Die Überweisung des Verurteilten in die Unterbringung in einem

psychiatrischen Krankenhaus entfalle mit Aufhebung der Anordnung der

nachträglichen Sicherungsverwahrung; sie sei wegen des Fehlens einer

gesetzlichen Grundlage aber auch im Übrigen bedenklich. Wegen der Vorfälle

in dem Seniorenheim werde dem anhängigen Sicherungsverfahren Fortgang zu

geben sein.

Urteil vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05

 

Landgericht Passau – Urteil vom 10. Juni 2005 – KLs 209 Js 8551/98

 

Karlsruhe, den 23. März 2006

 

 

§ 66b StGB Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der

Sicherungs-verwahrung

 

 

(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das

Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die

sexuelle Selbstbe-stimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch

in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz

1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen

erkennbar, die auf eine er-hebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die

Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der

Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des

Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des

Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche

Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich

schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66

erfüllt sind.

 

 

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung

zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder

mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die

persönliche Frei-heit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250,

251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht

die Unterbringung in der Si-cherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

die Gesamtwürdigung des Verur-teilten, seiner Tat oder seiner Taten und

ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit

hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten be-gehen wird, durch welche

die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt wer-den.

(3) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d

Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit

ausschließende oder vermin-dernde Zustand, auf dem die Unterbringung

beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungs-entscheidung nicht bestanden hat, so

kann das Gericht die Unterbringung in der Si-cherungsverwahrung nachträglich

anordnen, wenn

 

 

1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66

Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene

wegen ei-ner oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung

nach § 63 füh-renden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe

von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen

Krankenhaus untergebracht worden war und

 

 

2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner

Ent-wicklung während des Vollzugs der Maßregel ergibt, dass er mit hoher

Wahr-scheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die

Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

 

 

Bundesgerichtshof

 

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