BVerfG zum Datenschutz im privaten Versicherungsrecht

13.08.2013

Nach einem heute veröffentlichten Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfas-sungsgerichts muss eine versicherungsvertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung hinreichend eng ausgelegt werden, um dem Versicherten die Möglichkeit zur informationellen Selbstbestimmung zu bieten. Soweit keine gesetzlichen Regelungen über die informationelle Selbstbestimmung greifen, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der ver-schiedenen Grundrechtspositionen geboten sein, zum Beispiel durch eine verfahrensrechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versiche-rungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und ihn auszugestalten, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Beschwerdeführerin schloss mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens, einem Versiche-rungsunternehmen, einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Nach deren Tarifbe-dingungen hatte der Versicherte bei der Beantragung von Versicherungsleistungen unter anderem behandelnde Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten sowie Pflegepersonen, andere Personenversicherer und Behörden zu ermächtigen, dem Versicherungsunternehmen auf Verlan-gen Auskunft zu geben. Die Beschwerdeführerin beantragte unter Verweis auf Berufsunfähigkeit aufgrund von Depressionen Versicherungsleistungen. Dabei lehnte sie ab, die auf dem Antrags-formular der Beklagten abgedruckte Schweigepflichtentbindungserklärung, die zur Einholung sachdienlicher Auskünfte bei einem weiten Kreis von Stellen ermächtigt hätte, abzugeben und bot stattdessen an, Einzelermächtigungen für jedes Auskunftsersuchen zu erteilen. Daraufhin über-sandte die Beklagte der Beschwerdeführerin vorformulierte Erklärungen zur Schweigepflichtent-bindung ihrer Krankenkasse, zweier Ärztinnen und ihrer Rentenversicherung, die die verschiede-nen Stellen „umfassend“ zur Auskunftserteilung über „Gesundheitsverhältnisse, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Behandlungsdaten“ sowie im Fall der Rentenversicherung über die „berufliche Situation“ ermächtigen sollten. Die Beschwerdeführerin lehnte die Unterzeichnung ab und bat um weitere Konkretisierung der gewünschten Auskünfte. Dem kam die Beklagte nicht nach.

Die Klage der Beschwerdeführerin auf Zahlung der monatlichen Rente wiesen die Zivilgerichte ab. Der Beschwerdeführerin sei zumutbar gewesen, die Einzelermächtigungen vor der Unter-zeichnung selbst weiter einzuschränken oder die in den Einzelermächtigungen genannten Unter-lagen selbst zu beschaffen und der Beklagten vorzulegen.

2. Die gerichtlichen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen Selbstbestimmung.

a) Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgt eine Schutzpflicht des Staates. Kann in einem Vertragsverhältnis ein Partner den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hin-zuwirken. Zwar hat der Gesetzgeber inzwischen in § 213 VVG eine Regelung zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung der Versicherungsnehmer getroffen; diese Vorschrift findet jedoch auf den zu entscheidenden Altfall noch keine Anwendung. Daher oblag es in diesem Fall den Gerichten selbst, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch einen angemessenen Ausgleich mit dem Offenbarungsinteresse des Versicherungsunternehmens zu gewährleisten. Dazu sind die gegenläufigen Belange im Rahmen einer umfassenden Abwägung gegenüberzustel-len. Das Versicherungsunternehmen muss einerseits den Eintritt des Versicherungsfalls prüfen können, anderseits muss aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür Erforderli-che begrenzt bleiben. Allerdings ist es dem Versicherer oft nicht möglich, im Voraus alle Infor-mationen zu beschreiben, auf die es für die Überprüfung des Leistungsfalls ankommen kann. So-weit keine gesetzlichen Regelungen zur informationellen Selbstbestimmung greifen, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen Grundrechtspositionen geboten sein, zum Beispiel durch eine verfahrensrechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und ihn auszugestalten, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte. Versicherte einer Berufsunfähigkeitsversicherung können nicht auf die Möglichkeit

verwiesen werden, einen Vertragsschluss zu unterlassen oder die Leistungsfreiheit des Versiche-rers hinzunehmen.

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen hinreichenden Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie tragen den Belangen der Beschwerdeführerin nicht hinreichend Rechnung.

aa) Durch die vorformulierten Einzelermächtigungen würde der Beklagten ermöglicht, auch über das für die Abwicklung des Versicherungsfalls erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang In-formationen über die Beschwerdeführerin einzuholen. Die benannten Gegenstände der „umfas-senden“ Auskünfte - etwa „Gesundheitsverhältnisse, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Behandlungs-daten“ - sind so allgemein gehalten, dass sie kaum zu einer Begrenzung des Auskunftsumfangs führen. Erfasst werden nahezu alle bei den benannten Auskunftsstellen über die Beschwerdefüh-rerin vorliegenden Informationen, darunter auch viele für die Abwicklung des Versicherungsfalls bedeutungslose Informationen.

bb) Der Beschwerdeführerin ist, entgegen den angegriffenen Entscheidungen, nicht zuzumuten die vorformulierten Einzelermächtigungen selbst zu modifizieren oder die erforderlichen Unterla-gen eigenständig vorzulegen. Denn damit würde der Beschwerdeführerin auferlegt, die Interessen des Versicherungsunternehmens zu erforschen, und für den Fall, dass die vorgelegten Unterlagen oder die modifizierten Ermächtigungen für unzureichend erachtet würden, mit dem Risiko eines Leistungsverlusts belastet. Dieser Weg ist nicht geeignet, ihr Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung im Dialog mit dem Versicherungsunternehmen zu gewährleisten.

cc) Die angegriffenen Entscheidungen lassen beim Ausgleich der Grundrechtspositionen unbe-rücksichtigt, dass es das beklagte Versicherungsunternehmen nicht unverhältnismäßig belasten muss, wenn von ihm eine weitere Einschränkung der geforderten Einzelermächtigungen verlangt wird. Zwar kann der Umfang der Einzelermächtigungen dabei nicht vornherein schon auf die für die Prüfung des Leistungsanspruchs relevanten Informationen begrenzt werden. Wird die Schweigepflichtentbindung aber zunächst auf solche Vorinformationen beschränkt, die ausrei-chen, um festzustellen, welche Informationen tatsächlich für die Prüfung des Leistungsfalls rele-vant sind, könnte so der Umfang der überschießenden Informationen begrenzt und damit dem Recht der Beschwerdeführerin auf informationelle Selbstbestimmung Rechnung getragen werden. Die Verfahrenseffizienz würde durch eine solche grobe Konkretisierung der Auskunftsgegenstän-de nur geringfügig beeinträchtigt.

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