Rödl & Partner: Ist der Grundsatz der Tarifeinheit Geschichte? / Neue Wege für Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter

01.02.2010

Rödl & Partner

Erfurt/Nürnberg, 28.1.2010: Das bundesweit geltende Prinzip der Tarifeinheit könnte schon bald Geschichte sein. Am gestrigen Nachmittag teilte der vierte Senat des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) mit, er beabsichtige seine bisherige Rechtsprechung zur Tarifeinheit zu ändern. Bisher galt der Grundsatz "Ein Betrieb, ein Tarifvertrag". Eine Tarifpluralität war ausgeschlossen. Lagen verschieden Tarifverträge vor, galt stets der jeweils Speziellere.

Für private Unternehmen wie öffentliche Arbeitgeber hat dieser Schritt erhebliche Konsequenzen. „Für die Unternehmen würde eine verlässliche Größe im Arbeitskampfrecht entfallen, nämlich die Friedenspflicht. Der Arbeitgeber wird sich nicht mehr darauf verlassen können, dass sein Betrieb nicht bestreikt werden kann, wenn die von der streikenden Gewerkschaft gewollte Angelegenheit bereits durch einen für den Arbeitgeber geltenden Tarifvertrag geregelt ist“, erklärt Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin Daniela Gunreben von Rödl & Partner.

Die Änderung der bisher einheitlichen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hatte sich schon seit geraumer Zeit abgezeichnet. Eine sogenannte Tarifpluralität lag stets dann vor, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge zur Anwendung kamen, die von verschiedenen Gewerkschaften geschlossen worden waren. An diese war der Arbeitgeber deshalb gebunden, weil er entweder Mitglied im tarifschließenden Arbeitgeberverband war oder selbst als Tarifvertragspartei auftrat und für den einzelnen Arbeitnehmer je nach Gewerkschaftszugehörigkeit nur ein Tarifvertrag Anwendung findet. Eine Tarifpluralität wurde bislang regelmäßig dadurch aufgelöst, dass der speziellere Tarifvertrag weitere Tarifverträge verdrängt.

Das BAG erwägt jedoch in einem aktuellen Verfahren, vom Grundsatz der Tarifeinheit Abstand zu nehmen (Az.: 4 AZR 549/08 (A)). Dabei geht es um einen Arzt, der einen Urlaubsaufschlag nach dem Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) für das Jahr 2005 geltend macht. Der Arbeitnehmer ist tarifgebunden im Marburger Bund. Die beklagte Klinik ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, der wiederum Mitglied in der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist. Der BAT wurde seinerzeit sowohl vom VKA als auch von ver.di und dem Marburger Bund für die Arbeitnehmerseite geschlossen. Zwischenzeitlich wurde der BAT ab Oktober 2005 vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) zumindest für ver.di- Mitglieder abgelöst. Die Klinik war an den TVöD gebunden, der zwischen dem VKA und ver.di geschlossen wurde und den BAT für den öffentlichen Dienst ablöste. Der TVöD wurde jedoch nicht vom Marburger Bund geschlossen. Erst ab dem 01.08.2006 trat der Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern (TV-Ärzte), der mit dem Marburger Bund abgeschlossen wurde, in Kraft.

Die Klinik argumentierte, dass für das Jahr 2005 jedenfalls der BAT für die Mitglieder des Marburger Bundes von den spezielleren Regelungen des TVöD aufgrund des Grundsatzes der Tarifeinheit verdrängt wurde. Der vierte Senat des BAG folgt dagegen der Rechtsauffassung des Arbeitnehmers. Danach gelten die Rechtsnormen des BAT im Arbeitsverhältnis der Verfahrensparteien aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit unmittelbar und zwingend, da sie nicht für Mitglieder des Marburger Bundes vom TVöD abgelöst wurden. Der Arzt könne danach den Urlaubsaufschlag nach dem BAT zu Recht beanspruchen. Der bislang hoch gehaltene Grundsatz der Tarifeinheit stelle nach Auffassung des vierten Senats einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar, da das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verletzt werde.

Der vierte Senat wird nun den zehnten Senat des BAG anfragen, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung des Grundsatzes der Tarifeinheit festhalten wolle. Sollte der zehnte Senat dies bejahen, wäre eine divergierende Rechtsauffassung zweier Senate des BAG gegeben. Die Voraussetzung für die Vorlage an den Großen Senat des BAG wäre dann gegeben.

„Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde bislang stets sehr kontrovers diskutiert. Die Wende in der Rechtsprechung des BAG hat sich seit Längerem abgezeichnet“, betont Arbeitsrechtsexperte Arndt Reckler von Rödl & Partner. „Aber die Konsequenzen für die Arbeitgeberseite sind äußerst umfangreich.“ So wird die Abkehr Auswirkungen auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln haben. Was wären dann die im Arbeitsvertrag stets genannten „für den Arbeitgeber jeweils geltenden Tarifverträge“, wenn dann mehrere Tarifverträge im Betrieb in Frage kämen? „Zahlreiche Arbeitsverträge wären von dieser neuen Rechtsprechung betroffen und müssten geändert werden“, so Reckler.

Des Weiteren wären die Gestaltungsmöglichkeiten für die Unternehmen mit Blick auf bislang speziellere Firmentarifverträge berührt und müssten dringend überdacht werden. Für kleinere Spartengewerkschaften, beispielsweise die Lokführer, würde die Zulassung der Tarifpluralität eine Stärkung ihrer Einflussmöglichkeiten bedeuten. Die mit diesen kleineren Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge würden im Betrieb gelten und nicht verdrängt werden.

Nicht zuletzt hätte eine Rechtsprechungsänderung auch erhebliche Auswirkungen auf das Betriebsverfassungsrecht. Was würde im Zusammenhang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Tarifvertrages bezüglich der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gelten und wie würde dann die Umsetzung von Betriebsnormen im Sinne des Tarifvertragsgesetzes erfolgen?

„Wenn die Erfurter Richter ihre Rechtsprechung tatsächlich ändern, wird dies erhebliche Auswirkungen auf das Arbeitsrecht haben und viele Folgefragen aufwerfen, die bereits jetzt kontrovers diskutiert werden. Der entfachte Sturm wird die Tarifparteien und Arbeitnehmervertretungen vor enorme Herausforderungen stellen“, zieht Gunreben ein kritisches Fazit.

Ihre Ansprechpartner:

Daniela Gunreben, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Partnerin,

Rödl & Partner

Tel.: + 49 (911) 91 93-16 11, E-Mail: daniela.gunreben@roedl.de

Arndt Reckler, Rechtsanwalt, Associate Partner, Rödl & Partner

Tel.: + 49 (911) 91 93-16 04, E-Mail: arndt.reckler@roedl.de

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