BGH, Beschluss vom 9. April 2024 - XIII ZB 7/22

02.07.2024

BUNDESGERICHTSHOF

vom

9. April 2024

in der Überstellungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


Beschleunigungsgebot im Haftbeschwerdeverfahren


GG Art. 19 Abs. 4; EMRK Art. 5 Abs. 4

Die überlange Dauer eines Beschwerdeverfahrens gegen die Anordnung von Sicherungshaft verstößt gegen das auch für die Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit geltende Beschleunigungsgebot und verletzt die von der Haft betroffene Person in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, dessen Inhalt und Reichweite durch Art. 5 Abs. 4 EMRK und seine Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof mitbestimmt wird (Fortführung von BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 59/20, InfAuslR 2021, 435 Rn. 8; vom 22. Februar 2024 - XIII ZA 1/24, juris Rn. 24).


BGH, Beschluss vom 9. April 2024 - XIII ZB 7/22 - LG Bielefeld, AG Bielefeld


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. April 2024 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Holzinger

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 20. Dezember 2021 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste spätestens im März 2018 erstmals nach Deutschland ein. Im Jahr 2020 und im ersten Halbjahr 2021 wurde er aus Polen, Serbien und Belgien jeweils nach Russland abgeschoben. Ende August 2021 reiste er aus der Ukraine nach Lettland ein und beantragte Asyl. Von dort kam er im Oktober 2021 erneut nach Deutschland und stellte einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 9. November 2021 als unzulässig ablehnte und mit einer Abschiebungsanordnung sowie einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verband.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 5. November 2021 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Lettland bis längstens 17. Dezember 2021 angeordnet. Die vom Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen am 10. November 2021 gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde, die nach dessen Überstellung nach Lettland am 14. Dezember 2021 noch darauf gerichtet war festzustellen, dass die über den 24. November 2021 hinaus vollzogene Haft rechtswidrig war, hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. Dezember 2021 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

[3] II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

[4] 1. Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung für rechtmäßig erachtet. Die vom Betroffenen gerügte verzögerte Bearbeitung bei der Gewährung von Akteneinsicht im Beschwerdeverfahren stelle keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, weil dieses nur für die die Abschiebung betreibenden Ausländerbehörden, nicht aber für die mit der Haftanordnung und -prüfung befassten Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit gelte. Im Übrigen habe sie keinen Einfluss auf die Dauer der Haft gehabt, da eine frühere Gewährung von Akteneinsicht wegen der Unbegründetheit der Beschwerde nicht zur Aufhebung des Haftbeschlusses und einer früheren Entlassung des Betroffenen geführt hätte.

[5] 2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nur im Ergebnis stand.

[6] a) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts unterliegen auch die mit der Haftanordnung und -prüfung befassten Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit einem Beschleunigungsgebot (BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 59/20, InfAuslR 2021, 435 Rn. 8; vom 22. Februar 2024 - XIII ZA 1/24, juris Rn. 24). Stellt sich die Dauer eines Beschwerdeverfahrens gegen die Anordnung von Sicherungshaft als überlang dar, verletzt dies die von der Haft betroffene Person in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Für die Beurteilung, ob die Verfahrensdauer als überlang einzuordnen ist, sind die Vorgaben des Art. 5 Abs. 4 EMRK und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte heranzuziehen.

[7] aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle des ihn betreffenden Handelns oder Unterlassens der öffentlichen Gewalt. Dieser Anspruch umfasst die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, wobei die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. September 2023 - 2 BvR 825/23, NJW 2023, 3487 Rn. 29 mwN). Bei Eingriffen in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG erlangt der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz besondere Bedeutung. Da die Europäische Menschenrechtskonvention und deren Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist, sind bei Haftprüfungsverfahren zudem die Verfahrensgarantien des Art. 5 Abs. 4 EMRK zu beachten, wonach jede Person, der die Freiheit entzogen ist, das Recht hat zu beantragen, dass ein Gericht "innerhalb kurzer Frist" über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist (vgl. BVerfG, NJW 2023, 3487 Rn. 30 f. mwN).

[8] bb) Diese Grundsätze gelten auch für das Beschwerdeverfahren in Haftanordnungsverfahren nach §§ 417 ff. FamFG, wenn dieses die Überprüfung einer vom Amtsgericht angeordneten Sicherungshaft zum Gegenstand hat. Denn auch ein solches Verfahren zielt auf eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 5 Abs. 4 EMRK ab. Zwar verpflichtet diese Norm nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Vertragsstaaten nicht, Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen und zur Verhandlung über Freilassungsanträge mehrinstanzlich auszugestalten; sieht jedoch das nationale Verfahrensrecht eine zweite Instanz vor, müssen Personen, denen die Freiheit entzogen ist, auch im Hinblick auf die Zügigkeit der Überprüfung einer durch ein unteres Gericht angeordneten Freiheitsentziehung im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich dieselben Garantien zustehen wie in der ersten Instanz (vgl. EGMR, Urteil vom 4. Dezember 2018 - 10211/12, juris Rn. 254 mwN). Die Frage, ob das Recht auf eine zügige Entscheidung beachtet worden ist, muss im Lichte der Umstände jedes einzelnen Falles entschieden werden, wozu auch die Komplexität des Verfahrens, die Verfahrensführung seitens der nationalen Behörden und des Beschwerdeführers sowie die Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer gehören (EGMR, aaO Rn. 251 f.). Dabei hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im zweitinstanzlichen Verfahren eine längere Überprüfungsdauer für hinnehmbar, wenn die ursprüngliche Unterbringungsanordnung von einem Gericht unter Gewährung angemessener rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien erlassen wurde (EGMR, aaO Rn. 255).

[9] b) Nach diesen Grundsätzen hat das Beschwerdegericht im Streitfall nicht gegen das aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 5 Abs. 4 EMRK folgende Beschleunigungsgebot verstoßen.

[10] aa) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde liegt ein entsprechender Verstoß nicht deshalb vor, weil das Beschwerdegericht bis zum Ablauf des 24. November 2021 noch nicht über die am 10. November 2021 beim Amtsgericht eingegangene Beschwerde des Betroffenen gegen die Haftanordnung entschieden hatte. Es finden sich bereits keine Anhaltspunkte für eine unsachgemäße Behandlung der Sache durch die damit befassten Gerichte, die zu einer Verzögerung der Entscheidung geführt haben könnte. Nach Aktenlage hat das Amtsgericht am Tag nach Eingang der mit einem Akteneinsichtsgesuch und einem Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe verbundenen Beschwerde der beteiligten Behörde eine Abschrift der Beschwerdeschrift zur Stellungnahme sowie mit der Bitte um Entscheidung über die Akteneinsicht übersandt und zugleich um (erneute) Übersendung der Ausländerakte gebeten. Mit Verfügung vom 17. November 2021 - also sieben Tage nach Beschwerdeeingang - hat das Amtsgericht gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 FamFG entschieden, der Beschwerde nicht abzuhelfen, und die Akte dem Landgericht zur Entscheidung über die Beschwerde zugeleitet. Damit hat das Amtsgericht den in seiner Zuständigkeit liegenden Teil des Beschwerdeverfahrens mit für eine Haftsache hinreichender Zügigkeit betrieben. Gleiches gilt für das Beschwerdegericht, das dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen umgehend am 19. November 2021 die Gerichtsakte in Kopie zum Zwecke der Akteneinsicht übersandt hat. Da es sodann - jedenfalls für die hier zu Recht erlassene ablehnende Entscheidung - den Eingang der angekündigten Beschwerdebegründung abwarten musste, der erst am Abend des 29. November 2021 erfolgte, musste und durfte es entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht vor dem 25. November 2021 über die Beschwerde entscheiden.

[11] bb) Eine mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 5 Abs. 4 EMRK unvereinbare Verfahrensverzögerung ist vorliegend auch nicht darin zu sehen, dass das Beschwerdegericht seine Entscheidung nicht bis zur Abschiebung und der damit verbundenen Haftentlassung des Betroffenen am 14. Dezember 2021 getroffen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass in Rechtsmittelverfahren vor den ordentlichen Gerichten, die auf die Anordnung einer Freiheitsentziehung durch ein Gericht erster Instanz folgen, (erst) Verzögerungen von mehr als drei bis vier Wochen geeignet sind, eine Frage nach dem aus Art. 5 Abs. 4 EMRK herrührenden Erfordernis der "kurzen Frist" aufzuwerfen (vgl. EGMR, Urteil vom 4. Dezember 2018 - 10211/12, juris Rn. 256). Danach scheidet hier eine nach Art. 19 Abs. 4 GG erhebliche Verzögerung von vornherein aus, denn zwischen dem Eingang der Rechtsbeschwerdebegründung und dem Haftende lagen weniger als drei Wochen.

[12] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff Roloff Tolkmitt

Picker Holzinger

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