EuGH: Kein allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung von Aktionären, hier: bei Übernahme der Kontrolle („Audiolux“)

03.12.2009

RL 2004/25/EG Art. 3, 5, 15, 16; RL 79/279/EWG Art. 4; RL 77/91/EWG Art. 20, 42

Kein allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung von Aktionären, hier: bei Übernahme der Kontrolle („Audiolux“)

EuGH, Urt. v. 15. 10. 2009 – Rs C-101/08 (Cour de cassation Luxemburg; <fundstelle></fundstelle>Schlussanträge ZIP 2009, 1613</fundstelle><//fundstelle>)

Urteilsausspruch (Originalsprache: Französisch):

Das Gemeinschaftsrecht enthält keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, vermöge dessen die Minderheitsaktionäre dadurch geschützt sind, dass der Hauptaktionär, der die Kontrolle über eine Gesellschaft erwirbt oder ausübt, verpflichtet ist, ihre Aktien zu den gleichen Bedingungen aufzukaufen wie denen, die beim Erwerb einer Beteiligung vereinbart wurden, mit der dem Hauptaktionär die Kontrolle verschafft oder seine Kontrolle verstärkt wird.

Urteil:

[1]  Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Frage, ob es im Gemeinschaftsrecht einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung von Aktionären gibt, vermöge dessen die Minderheitsaktionäre dadurch geschützt sind, dass der Hauptaktionär, der die Kontrolle über eine Gesellschaft erwirbt oder ausübt, verpflichtet ist, ihre Aktien zu den gleichen Bedingungen aufzukaufen wie denen, die beim Erwerb einer Beteiligung an dieser Gesellschaft vereinbart wurden, mit der dem Hauptaktionär die Kontrolle verschafft oder seine Kontrolle verstärkt wird, sowie ggf. die Wirkungen eines solchen Grundsatzes in zeitlicher Hinsicht.

[2]  Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Minderheitsaktionären der Gesellschaft RTL Group (im Folgenden: RTL) und den Gesellschaften Groupe Bruxelles Lambert SA (im Folgenden: GBL), Bertelsmann AG (im Folgenden: Bertelsmann) sowie RTL über zwischen GBL und Bertelsmann getroffene Vereinbarungen.

<zwtitel></zwtitel>Ausgangsverfahren und Vorlagefragen</zwtitel><//zwtitel>

[20]  Die Audiolux SA und die anderen Klägerinnen des Ausgangsverfahrens (im Folgenden zusammen: Audiolux) sind Minderheitsaktionäre von RTL, deren Aktien an den geregelten Börsen von Luxemburg, Brüssel und London notiert waren.

[21]  Wie aus der Akte hervorgeht, hielt GBL vor den Ereignissen, die Anlass zu dem Ausgangsrechtsstreit gegeben haben, 30 % der Aktien von RTL. Bertelsmann hielt einen Anteil von 80 % an der Bertelsmann Westdeutsche TV GmbH, die restlichen 20 % standen im Besitz der Westdeutsche Allgemeine Zeitungsverlagsgesellschaft E. Brost & J. Funke GmbH & Co. Die Bertelsmann Westdeutsche TV GmbH hielt 37 % der Aktien an RTL, die britische Gruppe Pearson Television einen Anteil von 22 % und den Rest, 11 % der Aktien, das breite Publikum, darunter Audiolux.

[22]  Im Zuge mehrerer Transaktionen, die in der ersten Hälfte des Jahres 2001 stattfanden, übertrug GBL ihren Anteil von 30 % am Kapital von RTL an Bertelsmann im Austausch gegen 25 % an deren Kapital.

[23]  Im weiteren Verlauf erwarb Bertelsmann im Dezember 2001 den Anteil von Pearson Television und betrieb RTL das „delisting“ ihrer Wertpapiere an der Londoner Börse, das am 31. Dezember 2002 wirksam wurde.

[24]  Die Übertragung des von GBL gehaltenen Anteils an Bertelsmann war Gegenstand eines Urteils des Tribunal d'arrondissement (Luxemburg) vom 8. Juli 2003, das die von Audiolux erhobenen Klagen mit der Begründung abwies, dass sie auf keinen im luxemburgischen Recht anerkannten Rechtsgrundsatz gestützt seien.

[26]  Das „delisting“ der Wertpapiere von RTL von der Londoner Börse war Gegenstand eines Urteils des Tribunal d'arrondissement vom 30. März 2004, mit dem die von Audiolux erhobenen Klagen abgewiesen wurden, die u.a. die Verpflichtung betrafen, die Wertpapiere von RTL breiter in der Öffentlichkeit zu streuen und sie nicht von der Notierung an der Londoner Börse zurückzuziehen.

[27]  Die Cour d'appel (Luxemburg) bestätigte nach Verbindung der beiden Rechtssachen diese Urteile, wobei sie in Bezug auf das Urteil vom 8. Juli 2003 ausführte, dass in dieser Rechtssache die Existenz eines allgemeinen Grundsatzes in Rede stehe, dem gemäß die Minderheitsaktionäre einer börsennotierten luxemburgischen Gesellschaft einen Anspruch auf Gleichbehandlung durch die Mehrheitsaktionäre bei der Übertragung eines bedeutenden Anteils an dieser Gesellschaft geltend machen könnten. In dieser Hinsicht vertrat die Cour d'appel die Auffassung, dass ein allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz für Aktionäre im geltenden Recht nicht existiere und er nicht als Rechtsgrundlage für die Ansprüche der Berufungsklägerinnen dienen könne.

[28]  Die von Audiolux eingelegte Revision richtet sich nur gegen die das Urteil vom 8. Juli 2003 bestätigenden Feststellungen dieses Urteils. Audiolux rügt darin die Verletzung eines allgemeinen Grund-ZIP 47/2009, 2242satzes der Gleichbehandlung der Aktionäre und verlangt, dass ihr dieselbe Behandlung gewährt werde, die GBL bei der Übertragung ihres Anteils an RTL auf Bertelsmann zuteil geworden sei und eine Kontrollprämie beinhaltet habe.

[29]  Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (s. Rz. 32).

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

[32]  Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es im Gemeinschaftsrecht einen allgemeinen Rechtsgrundsatz betreffend die Gleichbehandlung von Aktionären gibt, vermöge dessen die Minderheitsaktionäre dadurch geschützt sind, dass der Hauptaktionär, der die Kontrolle über eine Gesellschaft erwirbt oder ausübt, verpflichtet ist, ihre Aktien zu den gleichen Bedingungen aufzukaufen wie denen, die beim Erwerb einer Beteiligung an dieser Gesellschaft vereinbart wurden, mit der dem Hauptaktionär die Kontrolle verschafft oder seine Kontrolle verstärkt wird.

[33]  Insoweit nimmt das vorlegende Gericht Bezug auf mehrere Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, nämlich die Art. 20 und 42 RL 77/91, den dritten allgemeinen Grundsatz und den ergänzenden Grundsatz Nr. 17 der Wohlverhaltensregeln, Schema C Nr. 2 Buchst. a des Anhangs der RL 79/279 und Art. 3 Art. 1 Buchst. a RL 2004/25 im Licht des achten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie.

[34]  Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der bloße Umstand, dass es im abgeleiteten Gemeinschaftsrecht verschiedene Vorschriften zum Schutz von Minderheitsaktionären gibt, für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist. Die Prüfung der vom vorlegenden Gericht genannten Vorschriften dient daher allein der Feststellung, ob diese Vorschriften schlüssige Indizien für die Existenz des gesuchten Grundsatzes bieten. Einen Indizwert haben diese Vorschriften nur, soweit sie zwingend formuliert sind (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – Rs C-149/96, Slg. 1999, I-8395, Rz. 86 – Portugal/Rat, sowie EuGH, Urt. v. 12.7.2001 – Rs C-189/01, Slg. 2001, I-5689, Rz. 74 – Jippes u.a.) und sich der genaue Inhalt des gesuchten Grundsatzes aus ihnen ergibt (vgl. in diesem Sinne EuGH Slg. 2001, I-5689, Rz. 73 – Jippes u.a.).

[35]  Erstens ist festzustellen, dass sich die oben genannten Vorschriften der RL 77/91 und 79/279 nur auf ganz bestimmte Situationen beziehen und keine Situation betreffen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht.

[36]  Mit den Bezugnahmen auf den Schutz von Minderheitsaktionären in Art. 20 RL 77/91 wird nicht auf die Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts hingewiesen, sondern sollen lediglich, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, die Ziele angegeben werden, die es den Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen erlauben, von der Anwendung von Art. 19 dieser Richtlinie abzusehen.

[37]  Auch die in Art. 42 RL 77/91 genannte Verpflichtung, die Gleichbehandlung der Aktionäre sicherzustellen, die sich in denselben Verhältnissen befinden, gilt, wie sich aus dem vorangestellten Nebensatz „für die Anwendung dieser Richtlinie“ ergibt, nur im Rahmen dieser Richtlinie, d.h., wie in deren fünftem Erwägungsgrund ausgeführt wird, bei Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen. Somit ist diese Bestimmung auf Situationen anwendbar, die völlig verschieden sind von denen, auf die sich die Verpflichtung bezieht, die im Ausgangsverfahren nach dem von Audiolux behaupteten allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dem Hauptaktionär auferlegt sein soll.

[38]  Die Feststellung, dass die in dem erwähnten Art. 42 vorgesehene Regel der Gleichbehandlung der Aktionäre nach der Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers nicht dazu bestimmt ist, außerhalb des Rahmens der RL 77/91 angewandt zu werden, wird durch den Zweck dieser Richtlinie gestützt.

[39]  Diese Richtlinie soll nämlich nur ein Mindestmaß des Schutzes für Aktionäre in allen Mitgliedstaaten sicherstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 12.3.1996 – Rs C-441/93, Slg. 1996, I-1347 = ZIP 1996, 1543, Rz. 38 – Pafitis u.a., dazu EWiR 1996, 1073 (Hirte); EuGH, Urt. v. 19.11.1996 – Rs C-42/95, Slg. 1996, I-6017 = ZIP 1996, 2015, Rz. 13 – Siemens, sowie EuGH, Urt. v. 18.12.2008 – Rs C-338/06, Slg. 2008, I-0000, Rz. 23 – Kommission/Spanien).

[40]  Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 42 RL 77/91 selbst im Rahmen dieser Richtlinie nicht als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts angesehen werden kann. Der Gerichtshof hat nämlich eine weite Auslegung dieser Vorschrift mit der Begründung abgelehnt, dass diese zur Folge hätte, Art. 29 Art. 4 der betreffenden Richtlinie über die Voraussetzungen, unter denen das Bezugsrecht beschränkt werden kann, seine praktische Wirksamkeit zu nehmen (vgl. EuGH Slg. 2008, I-0000, Rz. 32 u. 33 – Kommission/Spanien).

[41]  Zu Schema C Nr. 2 Buchst. a des Anhangs der RL 79/279, wonach die Gesellschaft den Aktionären, die sich in denselben Verhältnissen befinden, die gleiche Behandlung sicherstellen muss, genügt die Feststellung, dass diese Bestimmung inzwischen aufgehoben und durch Art. 17 RL 2001/34 ersetzt worden ist, die gemäß ihrem Titel nur auf die Informationspflicht gegenüber den Inhabern von Wertpapieren anwendbar ist.

[42]  Somit sind sowohl die Bestimmungen der RL 77/91 als auch die der RL 79/279, die vom vorlegenden Gericht angeführt werden, auf ganz bestimmte Sachlagen anwendbar, die sich deutlich von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unterscheiden. Wie die Generalanwältin in Rz. 84 ihrer Schlussanträge (ZIP 2009, 1613) ausgeführt hat, beschränken sich diese Bestimmungen ferner im Wesentlichen darauf, sehr spezifische gesellschaftsrechtliche Fallkonstellationen zu regeln, indem sie der Gesellschaft bestimmte Verpflichtungen zum Schutz aller Aktionäre auferlegen. Ihnen fehlt somit der allgemeine übergreifende Charakter, der sonst allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt.

[43]  Zweitens ist, was den dritten allgemeinen Grundsatz und den ergänzenden Grundsatz Nr. 17 der Wohlverhaltensregeln ZIP 47/2009, 2243und die RL 2004/25 betrifft, darauf hinzuweisen, dass weder in diesen Regeln noch in der Richtlinie ausdrücklich von der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf den Schutz von Minderheitsaktionären die Rede ist.

[44]  In Bezug auf die Wohlverhaltensregeln ist zum einen hervorzuheben, dass in Art. 2 ihres ersten allgemeinen Grundsatzes zwischen den geltenden Rechtsvorschriften und den Wohlverhaltensgrundsätzen unterschieden wird. Insoweit stellt dieser erste Grundsatz die auf dem Markt gebräuchlichen und die von den Wohlverhaltensregeln empfohlenen Grundsätze auf eine Stufe. Hieraus ergibt sich, dass diese Grundsätze gemäß den Wohlverhaltensregeln als Rechtsquelle denselben Wert haben wie die auf den Märkten gebräuchlichen Grundsätze. Eine solche Feststellung in Bezug auf die Rechtsnatur dieser Grundsätze ist aber unvereinbar mit der Hypothese, dass hinter dem dritten allgemeinen Grundsatz und dem ergänzenden Zusatz Nr. 17 der Wohlverhaltensregeln ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts steht.

[45]  Zum anderen bringen weder der dritte allgemeine Grundsatz noch der ergänzende Grundsatz Nr. 17 die Pflicht zur Gleichbehandlung uneingeschränkt und zwingend zum Ausdruck. Insbesondere ist es gem. Art. 2 des ergänzenden Grundsatzes Nr. 17 lediglich „wünschenswert“, allen Aktionären die Möglichkeit zu bieten, ihre Wertpapiere zu veräußern, und auch dies nur, soweit die Minderheitsaktionäre nicht anderweitig einen gleichwertigen Schutz genießen.

[46]  In Anbetracht der in Rz. 34 dieses Urteils zitierten Rechtsprechung steht eine solche Formulierung aber der Möglichkeit entgegen, aus diesen Bestimmungen die Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf den Schutz von Minderheitsaktionären herzuleiten. Die in Rz. 6 der Empfehlung 77/534 getroffene Feststellung, wonach in den betroffenen Kreisen ein weitgehender Konsens über die Grundsätze der Wohlverhaltensregeln bestehe, ist somit unerheblich.

[47]  Die RL 2004/25 verpflichtet in Art. 5 einen Aktionär, der die Kontrolle über eine Gesellschaft erworben hat, ein Pflichtangebot abzugeben. In Art. 16 sieht sie ein Andienungsrecht vor.

[48]  Erstens jedoch weisen die auf das Pflichtangebot und das Andienungsrecht bezogenen Erwägungsgründe 2, 9 bis 11 und 24 der RL 2004/25 weder explizit noch implizit darauf hin, dass die von dieser Richtlinie aufgestellten Regeln aus einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts hervorgingen. Außerdem nehmen diese Erwägungsgründe keinen Bezug auf die Wohlverhaltensregeln oder auf die RL 77/91 und 79/279, so dass die RL 2004/25 nicht als die Umsetzung eines von den Wohlverhaltensregeln oder den genannten Richtlinien begonnenen Vorhabens angesehen werden kann.

[49]  Zweitens ist der Anwendungsbereich sowohl des Pflichtangebots als auch des Andienungsrechts gem. Art. 1 RL 2004/25 auf börsennotierte Gesellschaften beschränkt. Außerdem ist das Pflichtangebot gem. Art. 5 Art. 1 der Richtlinie nur anwendbar, wenn eine Person aufgrund eines Erwerbs eine Beteiligung hält, die ihr die Kontrolle über diese Gesellschaft verschafft, und gilt das Andienungsrecht gem. den Art. 15 und 16 dieser Richtlinie nur in Situationen, in denen ein Aktionär im Zuge eines öffentlichen Angebots mehr als 90 % des stimmberechtigten Kapitals erwirbt.

[50]  Somit sind diese Bestimmungen der RL 2004/25 auf spezielle Situationen anwendbar, so dass aus ihnen kein allgemeiner Grundsatz mit einem bestimmten Inhalt abgeleitet werden kann. Ihnen fehlt auch, wie bereits in Bezug auf die Bestimmungen der RL 77/91 und 79/279 in Rz. 42 dieses Urteils festgestellt, der allgemeine übergreifende Charakter, der allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt.

[51]  Was insbesondere die Bestimmungen der RL 2004/25 angeht, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, ist festzustellen, dass im achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie zwar von allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Rede ist, dieser Erwägungsgrund aber nur auf Verfahrensgarantien abstellt und keinen Bezug zu einem Grundsatz der Gleichbehandlung von Aktionären aufweist. Ebenso wenig kann aus der Verwendung der Begriffe „Allgemeine Grundsätze“ in Art. 3 dieser Richtlinie geschlossen werden, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber damit die in diesem Artikel genannten Grundsätze mit allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gleichzusetzen beabsichtigte. Wie aus der Wendung „zur Umsetzung dieser Richtlinie“ hervorgeht, handelt es sich nur um Leitprinzipien für die Umsetzung dieser Richtlinie durch die Mitgliedstaaten.

[52]  Nach alledem ist festzustellen, dass die Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, keine schlüssigen Indizien für die Existenz eines allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung von Minderheitsaktionären bieten.

[53]  Außerdem ist noch zu prüfen, ob die von Audiolux geforderte Behandlung als spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich des Gesellschaftsrechts aufgefasst werden kann.

[54]  Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz besagt nach ständiger Rechtsprechung, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 16.12.2008 – Rs C-127/07, Slg. 2008, I-0000, Rz. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung – Arcelor Atlantique et Lorraine u.a.).

[55]  Im vorliegenden Fall soll mit der von Audiolux geforderten Behandlung eine Verpflichtung begründet werden, die nur den Aktionär trifft, der die Kontrolle über eine Gesellschaft erwirbt oder seine Kontrolle verstärkt. Diese Pflicht zwänge ihn zum Vertragsabschluss mit allen Minderheitsaktionären zu denselben Bedingungen wie denen, die beim Erwerb einer die Kontrolle verschaffenden oder verstärkenden Beteiligung vereinbart wurden, und führte zu einem entsprechenden Recht aller Aktionäre, ihre Aktien an den Hauptaktionär zu verkaufen.

[56]  Es ist zu bestimmen, ob die in der vorstehenden Randnummer dargestellten Gesichtspunkte als Ausdruck des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes angesehen werden können.

ZIP 47/2009, 2244

[57]  Was die Begründung der Pflicht des Hauptaktionärs und die Festlegung der mit ihr verbundenen Bedingungen betrifft, ist festzustellen, dass der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz für sich genommen weder eine besondere Pflicht des Hauptaktionärs zu Gunsten der anderen Aktionäre entstehen lassen noch die spezielle Situation definieren kann, an die eine solche Pflicht anknüpft.

[58]  Für die Begründung einer dem Hauptaktionär obliegenden Pflicht sowie die Festlegung der Bedingungen, die diese Pflicht auslösen, wäre nämlich eine Entscheidung darüber erforderlich, ob die Minderheitsaktionäre in der besonderen Situation, in der ein Aktionär die Kontrolle über eine Gesellschaft erwirbt oder verstärkt, einen besonderen Schutz benötigen, der dadurch verwirklicht werden muss, dass dem Hauptaktionär eine Pflicht auferlegt wird. Eine solche Entscheidung setzte die Abwägung sowohl der Interessen der Minderheitsaktionäre und des Mehrheitsaktionärs als auch der erheblichen Folgen auf dem Gebiet der Unternehmensakquisitionen voraus und bedürfte gemäß dem Grundsatz der Rechtssicherheit einer spezifischen Formulierung, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. zu den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit EuGH, Urt. v. 10.3.2009 – Rs C-345/06, Slg. 2009, I-0000, Rz. 44 – Heinrich).

[59]  Auch sind selbst unter der Annahme, dass die Minderheitsaktionäre eines besonderen Schutzes bedürfen, verschiedene Mittel zur Sicherstellung dieses Schutzes denkbar, unter denen eine Auswahl getroffen werden müsste.

[60]  Die Wohlverhaltensregeln nehmen nämlich in ihrem ergänzenden Grundsatz Nr. 17 auf einen „gleichwertigen Schutz“ für die Minderheitsaktionäre Bezug, und in Rz. 11 Buchst. C der Empfehlung 77/534 wird als Beispiel für einen solchen gleichwertigen Schutz die Begrenzung der Befugnisse des Hauptaktionärs genannt.

[61]  Daher kann der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz auch nicht die Auswahl zwischen verschiedenen denkbaren Mitteln des Schutzes der Minderheitsaktionäre bestimmen, wie sie in diesen Vorschriften des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts empfohlen werden.

[62]  Ein Grundsatz, wie er von Audiolux geltend gemacht wird, setzt gesetzgeberische Entscheidungen voraus, die auf der Abwägung der in Rede stehenden Interessen und im Vorhinein festgelegten klaren und detaillierten Regeln beruhen (vgl. entsprechend EuGH, Urt. v. 15.7.1970 – Rs 41/69, Slg. 1970, 661, Rz. 18 bis 20 – ACF Chemiefarma/Kommission; EuGH, Urt. v. 5.3.1980 – Rs 265/78, Slg. 1980, 617, Rz. 9 – Ferwerda, sowie EuGH, Beschl. v. 5.3.1999 – Rs C-153/98 P, Slg. 1999, I-1441, Rz. 14 und 15 – Guérin automobiles/Kommission), und kann nicht aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet werden.

[63]  Die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts haben nämlich Verfassungsrang, während der von Audiolux geltend gemachte Grundsatz durch eine Detailliertheit gekennzeichnet ist, die eine gesetzgeberische Ausarbeitung erforderlich macht, die auf Gemeinschaftsebene durch einen Rechtsakt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts erfolgt. Der von Audiolux befürwortete Grundsatz kann daher nicht als ein selbstständiger allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts angesehen werden.

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