EuGH: Zur Konsultationspflicht bei Massenentlassungen in Konzerngesellschaften („Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK“)

09.12.2009

RL 98/59/EG Art. 2

Zur Konsultationspflicht bei Massenentlassungen in Konzerngesellschaften („Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK“)

EuGH, Urt. v. 10. 9. 2009 – Rs C-44/08 (Korkein oikeus (Finnland))

Urteilsausspruch (Verfahrenssprache: Finnisch):

1. Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist dahin auszulegen, dass innerhalb eines Konzerns der Erlass von strategischen Entscheidungen oder Änderungen der Geschäftstätigkeit, die den Arbeitgeber zwingen, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen, bei diesem Arbeitgeber die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter entstehen lässt.

2. Das Entstehen der Verpflichtung des Arbeitgebers, Konsultationen über die beabsichtigten Massenentlassungen aufzunehmen, setzt nicht voraus, dass dieser bereits in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle Auskünfte gem. Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b RL 98/59/EG zu gewähren.

3. Art. 2 Abs. 1 der RL 98/59/EG i.V.m. deren Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1 ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Konzerns, bestehend aus einer Muttergesellschaft und einer oder mehreren Tochtergesellschaften, die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter für die Tochtergesellschaft, die die Arbeitgebereigenschaft hat, entsteht, wenn diese Tochtergesellschaft, bei der es zu Massenentlassungen kommen könnte, benannt worden ist.

4. Art. 2 Abs. 1 der RL 98/59/EG i.V.m. deren Art. 2 Abs. 4 ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Konzerns das Konsultationsverfahren von der durch Massenentlassungen betroffenen Tochtergesellschaft abgeschlossen worden sein muss, bevor diese, ggf. auf unmittelbare Anweisung ihrer Muttergesellschaft, die Verträge der von diesen Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer kündigt.

Urteil:

[1]  Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 RL 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung ZIP 47/2009, 2260der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 225, S. 16).

[2]  Dieses Ersuchen des Korkein oikeus ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK ry u.a. und der Fujitsu Siemens Computers Oy (im Folgenden: FSC) wegen der Verpflichtung, im Fall von Massenentlassungen mit den Arbeitnehmervertretern Konsultationen aufzunehmen.

<zwtitel></zwtitel>Ausgangsverfahren und Vorlagefragen</zwtitel><//zwtitel>

[18]  Nach der Zusammenlegung des Computergeschäfts der Fujitsu Ltd und der Siemens AG zu einem Gemeinschaftsunternehmen nahm der Konzern Fujitsu Siemens Computers am 1. Oktober 1999 seine Tätigkeit auf.

[19]  FSC ist eine Tochtergesellschaft der Fujitsu Siemens Computers (Holding) BV (im Folgenden: Muttergesellschaft) mit Sitz in den Niederlanden. Zum genannten Zeitpunkt hatte dieser Konzern Produktionsstätten in Espoo (Kilo) (Finnland) sowie in Augsburg, Paderborn und Sömmerda (Deutschland).

[20]  Am 7. Dezember 1999 beschloss der aus den geschäftsführenden Mitgliedern des Aufsichtsrats bestehende Vorstand der Muttergesellschaft, diesem Aufsichtsrat vorzuschlagen, sich vom Werk Kilo zu trennen.

[21]  In der Aufsichtsratssitzung vom 14. Dezember 1999 wurde entschieden, dem Vorschlag des Vorstands zu folgen; über das Werk Kilo wurde jedoch keine konkrete Entscheidung getroffen.

[22]  Am selben Tag schlug FSC Konsultationen vor, die zwischen dem 20. Dezember 1999 und 31. Januar 2000 stattfanden.

[23]  Der Aufsichtsrat von FSC, zu dem hauptsächlich die Geschäftsführer des Konzerns und der als Aufsichtsratsvorsitzender amtierende stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Muttergesellschaft des Konzerns gehörten, beschloss am 1. Februar 2000, die Tätigkeiten der Gesellschaft mit Ausnahme des Vertriebs von Computern in Finnland einzustellen. FSC begann am 8. Februar 2000 mit der Entlassung ihrer Arbeitnehmer. Insgesamt wurden etwa 450 der 490 von dieser Gesellschaft beschäftigten Arbeitnehmer entlassen.

[24]  Einige dieser Arbeitnehmer machten geltend, dass FSC mit den Ende 1999 und Anfang 2000 getroffenen Entscheidungen über die Schließung des Werks in Kilo gegen das nationale Gesetz über die Zusammenarbeit verstoßen habe. Sie übertrugen ihre Forderungen hinsichtlich der nach diesem Gesetz vorgesehenen Abfindung zur gerichtlichen Geltendmachung auf die Kläger, bei denen es sich um Gewerkschaften handelt. Diese wandten sich hierzu an das Espoon käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Espoo).

[25]  In dem Verfahren vor dem Espoon käräjäoikeus trugen die Kläger vor, dass im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft in Wirklichkeit spätestens am 14. Dezember 1999 endgültig entschieden worden sei, den Betrieb des Werks in Kilo einzuschränken und es von der Tätigkeit für den Konzern vor deren Verlagerung nach Deutschland zu entbinden, so dass diese Produktionsanlage nicht mehr zum Konzern habe gehören sollen. Die eigentliche Entscheidung sei am 14. Dezember 1999 getroffen worden, bevor die nach dem Gesetz über die Zusammenarbeit vorgeschriebenen Konsultationen stattgefunden hätten. Die Beklagte habe somit vorsätzlich oder offensichtlich fahrlässig gegen dieses Gesetz verstoßen.

[27]  Das Espoon käräjäoikeus stellte fest, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht dargelegt hätten, dass der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft über die Schließung der Produktionsstätte in Kilo in einer Weise entschieden hätte, dass die Wechselbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern im beklagten Unternehmen nicht im Sinne des Gesetzes über die Zusammenarbeit hätte verwirklicht werden können. Es habe echte Alternativen zur Schließung dieser Produktionsstätte gegeben, und diese Alternativen seien in den Konsultationen geprüft worden. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung über diese Schließung in der Aufsichtsratssitzung von FSC am 1. Februar 2000 getroffen worden sei, nachdem es sich als unmöglich herausgestellt habe, andere Alternativen zu finden, und dass echte und sachgerechte Konsultationen stattgefunden hätten, und wies die Klage ab.

[29]  Das von den Klägern des Ausgangsverfahrens mit dem Rechtsmittel befasste Korkein oikeus ist der Auffassung, dass zwischen den Bestimmungen der RL 98/59/EG und denen des Gesetzes über die Zusammenarbeit strukturelle und inhaltliche Unterschiede bestünden, und dass deshalb der Zusammenhang zwischen den beiden nicht völlig klar sei.

[30]  Da das vorlegende Gericht eine Auslegung der Vorschriften der RL 98/59/EG für seine Urteilsfindung für erforderlich hält, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (s. Rz. 36, 50, 56 und 66).

Die Vorlagefragen

Zur ersten Frage

[36]  Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Ausdruck „[b]eabsichtigt ..., Massenentlassungen vorzunehmen“ in Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG aufzufassen ist, um bestimmen zu können, wann die nach diesem Artikel vorgesehene Konsultationspflicht beginnt. Es wirft dazu die Frage auf, ob diese Verpflichtung zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem festgestellt wird, dass sich aus strategischen Entscheidungen oder Änderungen der Geschäftstätigkeit des Unternehmens die Notwendigkeit von Massenentlassungen ergibt, oder zu dem Zeitpunkt, zu dem der Erlass derartiger Entscheidungen oder Änderungen beabsichtigt wird, als deren Folge die Notwendigkeit solcher Entlassungen zu erwarten ist.

[37]  Zunächst ist festzustellen, dass es in der vorliegenden Rechtssache um wirtschaftliche und geschäftliche Entscheidungen geht, die sich auf die Arbeitsplätze einer bestimmten Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb eines Unternehmens auswirken können, und nicht um Entscheidungen, die unmittelbar darauf gerichtet sind, bestimmte Beschäftigungsverhältnisse zu beenden.

[38]  Dazu ist zu bemerken, dass – wie sich aus dem Wortlaut der Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 RL 98/59/EG ergibt – die Konsultations- und Anzeigepflichten vor einer Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen entstehen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 27.1.2005 – Rs C-188/03, Slg. 2005, I-885 = ZIP 2005, 230, Rz. 36 und 37 – Junk, dazu EWiR 2005, 213 (Grimm/Brock)). In einem solchen Fall besteht nämlich noch die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zumindest ihre Zahl zu beschränken oder ihre Folgen zu mildern.

[39]  Nach Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, wenn er „beabsichtigt, ... Massenentlassungen vorzunehmen“. Wie der Generalanwalt in den Nr. 48 und 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ergibt ein Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen dieser Vorschrift, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber das Entstehen der fraglichen Konsultationspflicht von der Absicht des Arbeitgebers, Massenentlassungen vorzunehmen, abhängig machen wollte.

[40]  Die in den Art. 3 und 4 RL 98/59/EG enthaltenen Hinweise auf „beabsichtigte“ Massenentlassungen bestätigen, dass eine solche Absicht für die nach dieser Richtlinie, insbesondere deren Art. 2, vorgesehenen Pflichten als auslösender Faktor anzusehen ist.

ZIP 47/2009, 2261

[41]  Daraus folgt, dass die in Art. 2 RL 98/59/EG vorgesehene Konsultationspflicht entsteht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 12.2.1985 – Rs 284/83, Slg. 1985, 553, Rz. 17 – Dansk Metalarbejderforbund und Specialarbejderforbundet i Danmark).

[42]  Allerdings löst die RL 98/59/EG, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, Pflichten, insbesondere die in ihrem Art. 2 vorgesehene Konsultationspflicht, auch in Fällen aus, in denen sich der Arbeitgeber nicht unmittelbar für Massenentlassungen entscheidet.

[43]  Art. 2 Abs. 4 dieser Richtlinie verpflichtet den Arbeitgeber nämlich selbst dann zur Einhaltung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Informations- und Konsultationspflichten, wenn die Entscheidung über die Massenentlassungen nicht vom Arbeitgeber, sondern von einem diesen beherrschenden Unternehmen getroffen wurde, und zwar auch dann, wenn er von dieser Entscheidung nicht unverzüglich und ordnungsgemäß in Kenntnis gesetzt wurde.

[44]  In einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem es immer mehr Konzerne gibt, gewährleistet diese Vorschrift, wenn ein Unternehmen von einem anderen Unternehmen beherrscht wird, die effektive Verwirklichung des Zwecks der RL 98/59/EG, die, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, auf die Verstärkung des Schutzes der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen abzielt (Urt. v. 15.2.2007 – Rs C-270/05, Slg. 2007, I-1499 = ZIP 2007, 496, Rz. 25 – Athinaïki Chartopoiïa, dazu EWiR 2007, 317 (Junker/Allenberg)).

[45]  Außerdem könnte, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs zutreffend bemerkt, ein vorzeitiges Entstehen der Konsultationspflicht Folgen haben, die dem Zweck der RL 98/59/EG zuwiderlaufen, z.B. eine Beschränkung der Flexibilität der Unternehmen in Bezug auf ihre Umstrukturierung, eine Verschärfung der administrativen Zwänge und bei den Arbeitnehmern einen unnötigen Anlass zur Sorge um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes.

[46]  Der Sinn und Zweck sowie die Effizienz der Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern schließlich setzen voraus, dass die Kriterien festgelegt werden, die im Zuge dieser Konsultationen zu berücksichtigen sind, denn es ist nicht möglich, Konsultationen in angemessener Weise und im Einklang mit ihren Zielen durchzuführen, wenn es an einschlägigen Kriterien für beabsichtigte Massenentlassungen fehlt. Diese Ziele bestehen gem. dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 RL 98/59/EG darin, Massenentlassungen zu vermeiden oder zumindest zu beschränken oder deren Folgen zu mildern (vgl. Urteil Slg. 2005, I-885 = ZIP 2005, 230, Rz. 38 – Junk). Ist eine Entscheidung, von der angenommen wird, dass sie zu Massenentlassungen führen wird, nur beabsichtigt und sind diese daher nur wahrscheinlich und die einschlägigen Faktoren für Konsultationen nicht bekannt, so können diese Ziele nicht erreicht werden.

[47]  Würde dagegen das Entstehen der in Art. 2 RL 98/59/EG vorgesehenen Konsultationspflicht vom Erlass einer strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidung abhängig gemacht, die Massenentlassungen erforderlich macht, so würde dieser Pflicht dadurch teilweise ihre praktische Wirksamkeit genommen. Aus Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Bestimmung ergibt sich nämlich, dass sich die Konsultationen insbesondere auf die Möglichkeit erstrecken sollen, geplante Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken. Eine Konsultation, die beginnt, obwohl bereits eine Entscheidung getroffen wurde, die derartige Massenentlassungen notwendig macht, könnte sich nicht mehr auf die Prüfung etwaiger Alternativen erstrecken, um diese Massenentlassungen zu vermeiden.

[48]  Deshalb muss das Konsultationsverfahren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens vom Arbeitgeber zu dem Zeitpunkt eröffnet worden sein, zu dem eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen.

Zur zweiten Frage

[50]  Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Entstehen der Verpflichtung des Arbeitgebers, Konsultationen über die beabsichtigten Massenentlassungen zu beginnen, voraussetzt, dass er bereits in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle Auskünfte gem. Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b RL 98/59/EG zu gewähren.

[51]  Der Wortlaut dieser Vorschrift bringt klar zum Ausdruck, dass der Arbeitgeber die betreffenden Auskünfte den Arbeitnehmervertretern „rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen“ erteilen muss, „[d]amit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können“.

[52]  Aus dieser Vorschrift folgt, dass diese Auskünfte im Verlauf und nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen sind.

[53]  Wie der Generalanwalt in den Nr. 64 und 65 seiner Schlussanträge festgestellt hat, hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmern nämlich nach dem Grundgedanken dieser Vorschrift während der gesamten Konsultationen die relevanten Informationen mitzuteilen. Eine flexible Handhabung ist erforderlich, weil die Auskünfte zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Konsultationsprozesses zur Verfügung stehen können, was bedeutet, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit und die Pflicht hat, die Auskünfte im Laufe dieses Verfahrens zu vervollständigen. Diese Pflicht des Arbeitgebers hat außerdem den Zweck, den Arbeitnehmervertretern die Möglichkeit einer möglichst weitgehenden und effektiven Beteiligung am Entscheidungsprozess zu geben, und hierfür ist es erforderlich, dass alle einschlägigen Informationen bis zum Abschluss des genannten Verfahrens erteilt werden.

[54]  Daraus folgt, dass der Beginn der Konsultationen nicht davon abhängen kann, ob der Arbeitgeber bereits in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b RL 98/59/EG genannten Informationen zu liefern.

Zur dritten und zur vierten Frage

[56]  Mit der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 4 RL 98/59/EG dahin auszule-ZIP 47/2009, 2262gen ist, dass im Fall eines Konzerns, bestehend aus einer Muttergesellschaft und einer oder mehreren Tochtergesellschaften, die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter entsteht, wenn entweder der Arbeitgeber oder die ihn beherrschende Muttergesellschaft Massenentlassungen beabsichtigt, und ob die Verpflichtung zur Aufnahme der Konsultationen voraussetzt, dass die Tochtergesellschaft, bei der es zu Massenentlassungen kommen könnte, benannt worden ist.

[57]  Dazu ist zu beachten, dass nach Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie Art. 3 Abs. 1 und 2 RL 98/59/EG die Informations-, Konsultations- und Meldepflichten allein den Arbeitgeber treffen, d.h. eine natürliche oder eine juristische Person, mit der die Arbeitnehmer, die entlassen werden könnten, in einem Beschäftigungsverhältnis stehen.

[58]  Ein den Arbeitgeber beherrschendes Unternehmen hat, selbst wenn es Entscheidungen treffen kann, die für diesen verbindlich sind, nicht die Arbeitgebereigenschaft.

[59]  Wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ausführt, ist zum einen die Organisation der Leitung eines Konzerns eine interne Angelegenheit und hat zum anderen die RL 98/59/EG ebenso wie die RL 75/129/EG nicht zum Ziel, die Freiheit eines solchen Konzerns, seine Tätigkeiten so zu organisieren, wie es ihm am bedarfsgerechtesten erscheint, einzuschränken (vgl. in diesem Sinne zur RL 75/129/EG, Urt. v. 7.12.1995 – Rs C-449/93, Slg. 1995, I-4291, Rz. 21 – Rockfon).

[60]  Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die RL 98/59/EG ebenso wie die RL 75/129/EG nur eine Teilharmonisierung der Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen vornimmt. Sie soll also die nationalen Systeme der Arbeitnehmervertretung in einem Betrieb nicht vollständig harmonisieren (vgl. zur RL 75/129/EG Urt. v. 8.6.1994 – Rs C-383/92, Slg. 1994, I-2479, Rz. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung – Kommission/Vereinigtes Königreich).

[61]  Im Rahmen dieser Teilharmonisierung wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber, worauf die Kläger hinweisen, durch den Erlass der RL 92/56/EG und sodann der RL 98/59/EG eine in seiner vorherigen Regelung bestehende Lücke schließen und die Pflichten der Arbeitgeber erläutern, die zu einem Konzern gehören. So bestimmt Art. 2 Abs. 4 RL 98/59/EG, dass die Konsultationspflicht des Arbeitgebers unabhängig davon gilt, ob die Entscheidung über die Massenentlassungen von diesem oder von einem ihn beherrschenden Unternehmen getroffen wurde.

[62]  Deshalb ist Art. 2 Abs. 1 und 4 Unterabs. 1 RL 98/59/EG dahin auszulegen, dass unabhängig davon, ob die Massenentlassungen aufgrund einer Entscheidung des Unternehmens, das die betroffenen Arbeitnehmer beschäftigt, oder aufgrund einer Entscheidung seiner Muttergesellschaft beabsichtigt oder geplant sind, stets das erstgenannte Unternehmen als Arbeitgeber zur Aufnahme der Konsultationen mit den Vertretern seiner Arbeitnehmer verpflichtet ist.

[63]  Hinsichtlich des Zeitpunkts des Entstehens dieser Pflicht ist es, wie die finnische Regierung bemerkt, offenkundig, dass die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter erst dann beginnen können, wenn das Unternehmen, in dem es zu Massenentlassungen kommen könnte, bekannt ist. Trifft nämlich die Muttergesellschaft eines Konzerns Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze der in diesem Konzern beschäftigten Arbeitnehmer haben könnten, ist es Sache der Tochtergesellschaft, deren Arbeitnehmer von den Massenentlassungen betroffen sein könnten, in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern einzuleiten. Derartige Konsultationen können demnach nicht aufgenommen werden, solange diese Tochtergesellschaft nicht feststeht.

[64]  Was den Zweck dieser Konsultationen angeht, so umfasst dieser zudem zumindest die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern. Eine sinnvolle Konsultation zu diesen Fragen setzt aber voraus, dass die Tochtergesellschaft, deren Beschäftigte von den geplanten Massenentlassungen betroffen wären, bekannt ist.

Zur fünften und zur sechsten Frage

[66]  Mit der fünften und der sechsten Frage begehrt das vorlegende Gericht Aufschluss darüber, wann das Konsultationsverfahren nach Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG abgeschlossen ist, wenn im Fall eines Konzerns, bestehend aus einer Muttergesellschaft und einer oder mehreren Tochtergesellschaften, die Entscheidung, die möglicherweise oder zwangsläufig zu Massenentlassungen führt, von der Muttergesellschaft getroffen wird.

[67]  Wie im Rahmen der Antwort auf die dritte und die vierte Frage dargelegt wurde, trifft die Konsultationspflicht nach Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG ausschließlich den Arbeitgeber.

[68]  Diese Richtlinie enthält nämlich keine Vorschrift, die dahin ausgelegt werden könnte, dass sie eine solche Pflicht auf Seiten der Muttergesellschaft begründet.

[69]  Daraus folgt, dass es stets der Tochtergesellschaft als Arbeitgeber obliegt, die Vertreter der Arbeitnehmer zu konsultieren, die von den beabsichtigten Massenentlassungen betroffen sein könnten, und ggf. selbst die Folgen der Nichteinhaltung der Konsultationspflicht zu tragen, wenn sie von einer derartige Entlassungen erforderlich machenden Entscheidung ihrer Muttergesellschaft nicht unverzüglich und ordnungsgemäß informiert wurde.

[70]  Was den Abschluss des Konsultationsverfahrens betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Arbeitgeber, wenn die RL 98/59/EG anwendbar ist, einen Arbeitsvertrag erst nach Abschluss des genannten Verfahrens kündigen darf, d.h., nachdem er die Verpflichtungen nach Art. 2 dieser Richtlinie erfüllt hat (vgl. Urteil Slg. 2005, I-885 = ZIP 2005, 230, Rz. 45 – Junk). Folglich muss das Konsultationsverfahren abgeschlossen sein, bevor eine Entscheidung über die Kündigung der Arbeitsverträge getroffen wird.

[71]  Bei einem Konzern wie dem im Ausgangsverfahren betroffenen folgt aus dieser Rechtsprechung, dass eine Entschei-ZIP 47/2009, 2263dung der Muttergesellschaft, die eine ihrer Tochtergesellschaften unmittelbar zwingt, die Verträge der von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer zu kündigen, erst getroffen werden kann, wenn das Konsultationsverfahren innerhalb dieser Tochtergesellschaft abgeschlossen ist; andernfalls müsste diese als Arbeitgeber die Folgen der Nichteinhaltung dieses Verfahrens tragen.

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Anmerkung der Redaktion:

Siehe hierzu den Kurzkommentar von Forst, EWiR 2009, 725.

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