BGH, Beschluss vom 1. Februar 2023 - XII ZB 166/21

07.03.2023

BUNDESGERICHTSHOF

vom

1. Februar 2023

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 317, 319


a) Erfolgt die persönliche Anhörung des Betroffenen im Unterbringungsverfahren ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des bestellten Verfahrenspflegers, ist sie verfahrensfehlerhaft und verletzt den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG und in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 14. September 2022 ­ XII ZB 554/21 ­ FamRZ 2022, 1873 und vom 15. Februar 2017 ­ XII ZB 462/16 ­ FamRZ 2017, 755).

b) Bei unfreiwilliger Abwesenheit des Verfahrenspflegers vom Anhörungstermin ist die Anhörung grundsätzlich verfahrensfehlerhaft. Ausnahmen kommen insoweit in Betracht, wenn der Verfahrenspfleger im Nachhinein auf die Wiederholung der Anhörung verzichtet oder die unfreiwillige Abwesenheit in seine Sphäre fällt.


BGH, Beschluss vom 1. Februar 2023 - XII ZB 166/21 - LG Lüneburg, AG Celle


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. Februar 2023 durch die Richter Guhling, Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur und die Richterin Dr. Krüger

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Celle vom 1. Februar 2021 und der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 15. März 2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung der Genehmigung seiner geschlossenen Unterbringung.

[2] Nach den im Verfahren getroffenen Feststellungen leidet er langjährig an einer paranoiden Schizophrenie, weshalb er die erforderliche Medikamenteneinnahme immer wieder vernachlässigt und so seine Gesundheit akut gefährdet. Für den Betroffenen ist seit Jahrzehnten eine Betreuung eingerichtet. Seit 2008 kam es wiederholt zu geschlossenen Unterbringungen, zuletzt seit 13. November 2020 in einer geschützt geführten Station einer psychiatrisch-psychosomatischen Klinik.

[3] Auf den Antrag des Betreuers, die Unterbringungsgenehmigung zu verlängern, hat das Amtsgericht den Betroffenen in Anwesenheit der Verfahrenspflegerin angehört und auf der Grundlage einer Stellungnahme der behandelnden Ärzte der Klinik, die dem Betroffenen nicht übermittelt wurde, mit Beschluss vom 1. Februar 2021 die Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens zum 30. April 2021 genehmigt. Auf die Beschwerde des Betroffenen hat das Amtsgericht im Abhilfeverfahren ein fachpsychiatrisches Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie eingeholt sowie an den Betroffenen übersandt und der Beschwerde nicht abgeholfen. Das Landgericht hat den Betroffenen durch ein Mitglied der Beschwerdekammer in Abwesenheit der Verfahrenspflegerin angehört und die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten Beschlüsse von Amtsgericht und Landgericht.

[4] II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, weil diese den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 13. April 2022 ­ XII ZB 267/21 ­ FamRZ 2022, 1132 Rn. 3 mwN) festzustellen ist.

[5] 1. Das amtsgerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit der Einholung des Sachverständigengutachtens war schon deswegen rechtsfehlerhaft, weil die von den behandelnden Ärzten des Betroffenen dem Amtsgericht übersandte ärztliche Stellungnahme vom 26. Januar 2021 der in § 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG vorgesehenen förmlichen Beweisaufnahme (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 10. August 2022 ­ XII ZB 149/22 ­ FamRZ 2022, 1728 Rn. 2 mwN) nicht gerecht wird. Diesen Verfahrensfehler konnte das Amtsgericht auch nicht durch das im Abhilfeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten beheben, weil das Abhilfeverfahren bereits Bestandteil des Beschwerdeverfahrens ist und deshalb nicht mehr zum ersten Rechtszug gehört, der mit Erlass der angefochtenen Entscheidung endet (vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2022 ­ XII ZB 52/22 ­ FamRZ 2023, 78 Rn. 9 mwN).

[6] 2. Zwar hat das Landgericht im Ansatz zutreffend den Betroffenen erneut angehört, weil das gemäß § 321 FamFG erforderliche Sachverständigengutachten erstmals im Abhilfeverfahren, also nach der erstinstanzlichen Entscheidung, eingeholt und dem Betroffenen übermittelt worden ist. Die Rechtsbeschwerde rügt indessen mit Erfolg, dass diese Anhörung verfahrensfehlerhaft war, weil sie in Abwesenheit der Verfahrenspflegerin durchgeführt wurde.

[7] a) Im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats ist das Beschwerdegericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen geboten war, weil es mit dem im Abhilfeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage herangezogen hat (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2017 ­ XII ZB 462/16 ­ FamRZ 2017, 755 Rn. 23 ff. mwN).

[8] b) Dagegen durfte das Beschwerdegericht nicht von der Teilnahme der Verfahrenspflegerin an der Anhörung des Betroffenen absehen.

[9] aa) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers in einer Unterbringungssache gemäß § 317 Abs. 1 Satz 1 FamFG soll die Wahrung der Belange des Betroffenen in dem Verfahren gewährleisten. Er soll bei den besonders schwerwiegenden Eingriffen in das Grundrecht der Freiheit der Person nicht allein stehen, sondern fachkundig beraten und begleitet werden. Der Verfahrenspfleger ist daher vom Gericht im selben Umfang wie der Betroffene an den Verfahrenshandlungen zu beteiligen. Dies gebietet es zumindest dann, wenn das Betreuungsgericht bereits vor der Anhörung des Betroffenen die Erforderlichkeit einer Verfahrenspflegerbestellung erkennen kann, in Unterbringungssachen regelmäßig, den Verfahrenspfleger schon vor der abschließenden Anhörung des Betroffenen zu bestellen. Das Betreuungsgericht muss durch die rechtzeitige Bestellung eines Verfahrenspflegers und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherstellen, dass dieser an der Anhörung teilnehmen kann. Außerdem steht dem Verfahrenspfleger ein eigenes Anhörungsrecht zu. Erfolgt die Anhörung dennoch ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des bestellten Verfahrenspflegers, ist sie verfahrensfehlerhaft und verletzt den Betroffenen sowohl in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG als auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, weil die Anhörung als Kernstück der Amtsermittlung zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien zählt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. September 2022 ­ XII ZB 554/21 ­ FamRZ 2022, 1873 Rn. 5 mwN und vom 15. Februar 2017 ­ XII ZB 462/16 ­ FamRZ 2017, 755 Rn. 18 mwN). Der rechtzeitig vom Termin unterrichtete Verfahrenspfleger kann sodann allerdings selbst entscheiden, ob er an dem Termin teilnimmt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2022 ­ XII ZB 554/21 ­ FamRZ 2022, 1873 Rn. 5 mwN).

[10] Bei unfreiwilliger Abwesenheit des Verfahrenspflegers vom Anhörungstermin ist die Anhörung grundsätzlich verfahrensfehlerhaft und zu wiederholen. Ausnahmen kommen insoweit in Betracht, wenn der Verfahrenspfleger im Nachhinein auf die Wiederholung der Anhörung verzichtet oder die unfreiwillige Abwesenheit in seine Sphäre fällt. Letzteres ist beispielsweise bei einer Verspätung des Verfahrenspflegers denkbar, die er dem Gericht nicht ankündigt (vgl. BFH Beschluss vom 18. Dezember 2009 ­ III B 118/08 ­ juris Rn. 11).

[11] bb) Gemessen daran ist die Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft erfolgt.

[12] Ausweislich der Akten hat das Beschwerdegericht die Verfahrenspflegerin zwar über den Anhörungstermin informiert. Sie hat aber auf eine Teilnahme an der Anhörung nicht verzichtet; vielmehr hat sie die Kenntnis von dem auf den 15. März 2021 (13 Uhr) in der Klinik bestimmten Anhörungstermin am 11. März 2021 bestätigt und um kurzfristige Übermittlung der Beschwerdeschrift gebeten.

[13] Die Verfahrenspflegerin hat auch im Nachhinein nicht auf eine Wiederholung der Anhörung verzichtet. Denn aus einem Vermerk der Geschäftsstelle der Beschwerdekammer geht hervor, dass die Verfahrenspflegerin am 15. März 2021 telefonisch mitgeteilt hat, sie sei um 12:55 Uhr in der Klinik erschienen. Dort habe man ihr am Empfang mitgeteilt, dass der Richter noch nicht anwesend sei, während man ihr ca. eine Viertelstunde später auf erneute Anfrage auf Station mitgeteilt habe, dass der Richter schon wieder weg sei. Falls der zuständige Richter weitere Nachfragen habe, könne er gern mit ihr Rücksprache halten. Daraus folgt zugleich, dass die unfreiwillige Abwesenheit vorliegend auch nicht in die Sphäre der Verfahrenspflegerin fällt.

[14] 3. Der Betroffene ist durch diesen Verfahrensmangel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

[15] Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt ein solcher Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung in Anwesenheit des Verfahrenspflegers gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2022 ­ XII ZB 554/21 ­ FamRZ 2022, 1873 Rn. 9 ff. mwN).

[16] 4. Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der ­ hier durch Zeitablauf erledigten ­ Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1

FamFG (st. Rspr. des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2022 ­ XII ZB 554/21 ­ FamRZ 2022, 1873 Rn. 12 mwN).

Guhling Klinkhammer Nedden-Boeger

Botur Krüger

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