BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 3/19

16.02.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

15. Dezember 2020

in der Abschiebungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


Richtlinie 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1; AufenthG § 62a Abs. 1 Satz 2 aF


Die Abschiebungshaft kann bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, in einer allgemeinen Haftanstalt vollzogen werden, wenn er getrennt von Strafgefangenen untergebracht wird und diese Art des Haftvollzugs im konkreten Einzelfall verhältnismäßig ist (Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - C-18/19, juris).


BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 3/19 - LG Frankfurt am Main, AG Frankfurt am Main


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. Dezember 2020 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Prof. Dr. Kirchhoff sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Rombach

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 24. August 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2003 in das Bundesgebiet ein und erhielt in der Folge mehrere befristete Aufenthaltserlaubnisse. Aufgrund seiner Hinwendung zu radikal-salafistischen Kreisen und seiner Unterstützung des "Islamischen Staats" (IS) ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport wegen der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags in Deutschland mit Verfügung vom 1. August 2017 nach § 58a Abs. 1 AufenthG seine Abschiebung nach Tunesien an. Hiergegen erhob der Betroffene Klage beim Bundesverwaltungsgericht, die er mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verband.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 18. August 2017 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Tunesien bis zum 23. Oktober 2017 angeordnet. Diese Haft wurde - wie im Antrag der Behörde angekündigt - in der allgemeinen Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I in einem von Strafgefangenen getrennten Bereich vollzogen. Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene, der nach Ablauf der angeordneten Haftzeit mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung begehrt, dass ihn die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt habe.

[3] II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

[4] 1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Ein Haftgrund liege vor, da die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF) erfüllt seien, indem die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aufgrund des vom Betroffenen beim Bundesverwaltungsgericht eingelegten Rechtsbehelfs nicht unmittelbar vollzogen werden könne. Die - von Strafgefangenen getrennte - Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt sei nach § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG aF erlaubt, da von ihm, wie von dieser Vorschrift gefordert, eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgehe.

[5] 2. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Haftanordnung musste im Streitfall nicht im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Europäischen Union wegen einer absehbar rechtswidrigen Unterbringung des Betroffenen (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, juris Rn. 20 [insoweit in NVwZ 2014, 166 nicht abgedruckt]; vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, InfAuslR 2014, 441 Rn. 5, und vom 25. August 2020 - XIII ZB 40/19, juris Rn. 12, jeweils mwN) unterbleiben.

[6] a) Die Unterbringung des Betroffenen in der allgemeinen Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I erfolgte auf der Grundlage des § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG aF. Diese Vorschrift steht mit dem Recht der Europäischen Union, insbesondere mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EG Nr. L 348, S. 98 - "Rückführungsrichtlinie"), in Einklang.

[7] aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in dieser Sache auf Vorlage des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 22. November 2018 - V ZB 180/17, juris) mit Urteil vom 2. Juli 2020 (C-18/19, juris) entschieden, dass Art. 16 Abs. 1 der Rückführungslinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht.

[8] bb) Um eine solche nationale Regelung handelt es sich bei § 62a Abs. 1 AufenthG aF. Zwar wird nach Satz 1 dieser Vorschrift Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Satz 2 der Norm erlaubt jedoch die Vollziehung der Haft in sonstigen Haftanstalten - getrennt von Strafgefangenen -, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht.

[9] b) Die in § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG aF angeführten Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt waren im Streitfall erfüllt. Vom Betroffenen ging eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus und er konnte in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt I getrennt von Strafgefangenen untergebracht werden.

[10] c) Die Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Haftanstalt statt in einer Abschiebungshafteinrichtung ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

[11] aa) Allerdings ist eine solche Unterbringung wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit der Person, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. April 2018 - V ZB 162/17, InfAuslR 2018, 335 Rn. 16 mwN), nur dann gerechtfertigt, wenn sie trotz der Schwere des mit einer solchen Maßnahme verbundenen Eingriffs im Hinblick auf die konkrete, von dem Betroffenen ausgehende Gefahr erforderlich und angemessen ist (vgl. dazu auch Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rn. 96 ff.). Das war hier der Fall.

[12] (1) In Abschiebungshafteinrichtungen genießen Gefangene deutlich mehr Freiheiten als in Einrichtungen für Untersuchungs- oder Strafgefangene. Die Gefangenen können sich dort in größerem Umfang frei bewegen, haben umfangreiche Kommunikationsmöglichkeiten einschließlich fremdsprachiger nationaler und internationaler Telefonate. Das hat zur Folge, dass sie im Einzelfall schwer zu kontrollieren sind. Eine Absicherung der Einrichtung gegen Übergriffe von außen ist zudem nur bis zu einem gewissen Grad gewährleistet (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 18/12415, S. 15; Ausschussempfehlungen zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BR-Drucks. 179/1/17, S. 15; Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rn. 103 f.).

(2) In einer solchen Einrichtung konnte den besonderen Sicherheitsbedürfnissen, wie sie für den Betroffenen auch während seiner Inhaftierung erforderlich waren, nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen werden. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts hatte der Betroffene während eines Syrienaufenthaltes im Jahr 2014 in den Reihen des IS gekämpft und plante nach seiner Rückkehr die Begehung eines Terroranschlags in Deutschland. Der mit Mitgliedern der radikal-salafistischen Szene eng vernetzte und rechtskräftig unter anderem wegen Körperverletzung verurteilte Betroffene galt als - insbesondere zur Durchsetzung seiner Wertvorstellungen - gewaltbereit, weshalb etwa für die Flugabschiebung eine herkömmliche Sicherheitsbegleitung für unzureichend angesehen wurde und auf besonders geschultes Personal zurückgegriffen werden musste. Der Betroffene hätte somit in einer Abschiebungshafteinrichtung eine Gefahr für andere Gefangene und das Aufsichtspersonal bedeutet. Zudem hätte nicht jede Fluchtmöglichkeit ausgeschlossen werden können.

[13] 14

bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nicht, dass zugunsten der in den Anwendungsbereich des § 58a AufenthG fallenden Personen - zumindest einzelne - Abschiebungshafteinrichtungen derart umstrukturiert werden, dass sie bei ansonsten unveränderter Funktionsweise die spezifischen Sicherheitsanforderungen für die Unterbringung dieser Personen erfüllen. Dem stehen die gegenläufigen Freiheitsrechte der übrigen Insassen der betreffenden Abschiebungshafteinrichtungen entgegen. Denn eine solche Umstrukturierung

würde zwangsläufig zu einer allgemeinen Verschärfung der Sicherheitsvor-kehrungen zum Nachteil der Bewegungsfreiheit der übrigen - nicht gefährlichen - Inhaftierten führen, die gezwungen wären, sich in einer Gefängnisumgebung aufzuhalten.

[15] cc) Ebenso wenig sind aus Gründen der Verhältnismäßigkeit innerhalb der Abschiebungshafteinrichtungen Sondereinheiten für die Unterbringung besonders gefährlicher Personen zu schaffen. Dies würde angesichts der Zahl dieser Personen, die im Vergleich zur Gesamtzahl der im Rahmen eines Rückkehrverfahrens inhaftierten Betroffenen sehr gering und zudem temporär schwankend ist, zu einem unverhältnismäßig hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand führen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rn. 104, und BeckOK AuslR/Kluth [1.10.2020], § 62a AufenthG Rn. 11a).

[16] 3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

Meier-Beck Schmidt-Räntsch Kirchhoff

Picker Rombach

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