BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 - XII ZB 521/23

16.07.2024

BUNDESGERICHTSHOF

vom

5. Juni 2024

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 68 Abs. 3 Satz 1, 276 Abs. 1 und 2, 278 Abs. 1 Satz 1, 295 Abs. 1 Satz 1


a) Im Verfahren über die Verlängerung der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts gegen den erklärten Willen des Betroffenen ist gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der Regel erforderlich.

b) Ist in erster Instanz die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben, hat das Beschwerdegericht für die Beschwerdeinstanz das Vorliegen der Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 FamFG erneut zu prüfen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. Februar 2022 ­ XII ZB 499/21 ­ FamRZ 2022, 730).


BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 - XII ZB 521/23 - LG Verden, AG Syke


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Juni 2024 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Günter und Dr. Botur und die Richterin Dr. Pernice

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 16. Oktober 2023 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe:

[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung einer bestehenden Betreuung und eines Einwilligungsvorbehalts für den Bereich der Vermögenssorge.

[2] Die 1981 geborene Betroffene leidet an einer hebephrenen Schizophrenie. Für sie ist seit dem Jahr 2013 eine Betreuung eingerichtet, zuletzt mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post, Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten sowie Widerruf von Vollmachten. Zudem ist für den Bereich der Vermögenssorge ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet.

[3] Im April 2023 hat die Betroffene beantragt, den Einwilligungsvorbehalt aufzuheben und einen Betreuerwechsel vorzunehmen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht die Betreuung mit unverändertem Aufgabenkreis und den Einwilligungsvorbehalt verlängert und als Zeitpunkt, bis zu dem über die Aufhebung oder Verlängerung der Betreuung und des Einwilligungsvorbehalts zu entscheiden ist, den 1. Mai 2027 festgesetzt. Die Anträge auf Aufhebung des Einwilligungsvorbehalts und auf Betreuerwechsel hat es abgelehnt. Der hiergegen gerichteten Beschwerde der Betroffenen hat das Amtsgericht teilweise abgeholfen, indem es die Überprüfungsfrist auf den 7. August 2025 verkürzt hat. Das Landgericht hat die weitergehende Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich diese mit der Rechtsbeschwerde.

[4] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

[5] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers verfahrensfehlerhaft unterblieben ist.

[6] a) Nach § 295 Abs. 1 Satz 1 FamFG gelten für die Verlängerung der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts die Vorschriften über die erstmalige Anordnung dieser Maßnahmen entsprechend. Gemäß dem danach entsprechend anwendbaren § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach der Änderung der Vorschrift durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 (BGBl. I S. 882) ist gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG in der seit dem 1. Januar 2023 geltenden Fassung die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der Regel erforderlich, wenn die Bestellung eines Betreuers oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts gegen den erklärten Willen des Betroffenen erfolgen soll. Ist in erster Instanz die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben, hat das Beschwerdegericht für die Beschwerdeinstanz das Vorliegen der Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 FamFG erneut zu prüfen, wobei es hierfür weiterhin auf den erstinstanzlichen Verfahrensgegenstand ankommt (Senatsbeschluss vom 16. Februar 2022 ­ XII ZB 499/21 ­ FamRZ 2022, 730 Rn. 4 mwN).

[7] Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50 Rn. 4 mwN).

[8] b) Gemessen hieran ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG für die Betroffene erforderlich.

[9] Durch die erstinstanzliche Entscheidung wurde der bereits früher angeordnete Einwilligungsvorbehalt im Bereich der Vermögenssorge verlängert. Dies geschah auch gegen den erklärten Willen der Betroffenen, wie sich bereits daraus ergibt, dass diese im April 2023 beantragt hat, den Einwilligungsvorbehalt aufzuheben. Da die Interessen der Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 5 FamFG vertreten worden sind, hätte von der Bestellung eines Verfahrenspflegers nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen abgesehen werden können. Der angefochtene Beschluss des Beschwerdegerichts enthält indes keine Begründung für die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers. Deshalb kann das Rechtsbeschwerdegericht weder prüfen, ob das Beschwerdegericht von seinem Ermessen bezüglich der Bestellung eines Verfahrenspflegers überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob seine Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 22. August 2018 ­ XII ZB 180/18 - FamRZ 2018, 1776 Rn. 10 mwN). Bereits dies gebietet die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

[10] 2. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 5, Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG). Dieses wird einen Verfahrenspfleger zu bestellen und ihm Gelegenheit zu geben haben, an einer erneuten Anhörung der Betroffenen teilnehmen zu können.

[11] Für das weitere Verfahren weist der Senat ergänzend daraufhin, dass sich der Maßstab für die Betreuerauswahl nicht nur bei der Erstentscheidung, sondern auch bei einer Verlängerung der Betreuung aus § 1816 BGB und nicht aus § 1868 Abs. 1 BGB ergibt (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2021 ­ XII ZB 181/20 ­ FamRZ 2021, 797 Rn. 10 mwN zu § 1897 BGB in der bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Fassung). Zudem darf nach § 1815 Abs. 1 Satz 3 BGB ein Aufgabenbereich nur angeordnet werden, wenn und soweit dessen rechtliche Wahrnehmung durch einen Betreuer erforderlich ist. Dies erfordert stets die konkrete tatrichterliche Feststellung, für welche Aufgabenbereiche die Bestellung eines Betreuers ­ auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit ­ erforderlich ist, weil der Betroffene Unterstützungsbedarf beim rechtlichen Handeln hat und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist dabei aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 19. April 2023 ­ XII ZB 462/22 ­ FamRZ 2023, 1057 Rn. 9 ff.). Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

[12] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Guhling Klinkhammer Günter

Botur Pernice

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