BGH, Beschluss vom 9. April 2024 - KZB 75/22

02.07.2024

BUNDESGERICHTSHOF

Verkündet am:

9. April 2024

KüpferleJustizamtsinspektorinals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


Berufungszuständigkeit III


GWB §§ 87, 91, 92 Abs. 1, § 93

a) Eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit kann auch erst in der Berufungsinstanz zu einer Kartellsache werden; das kommt in Betracht, wenn kartellrechtlich relevante Gesichtspunkte im Sinne des § 87 GWB erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht werden und diese nach §§ 529, 530, 531 ZPO berücksichtigungsfähig sind.

b) Für eine wirksame Einlegung der Berufung bei dem nach § 92 Abs. 1, §§ 93, 87 GWB zuständigen Kartelloberlandesgericht genügt es nicht, wenn der Berufungsführer Umstände im Sinne des § 87 GWB erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorbringt.

c) Ob Unsicherheit über die Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts besteht und die Berufung daher auch beim unzuständigen Kartelloberlandesgericht wirksam eingelegt werden kann, das sie dann nach § 281 ZPO an das zuständige allgemeine Berufungsgericht zu verweisen hat, beurteilt sich nach objektiven Kriterien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls; maßgeblich ist dabei die Erkenntnismöglichkeit einer verständigen Prozesspartei auf Grundlage des gesamten Akteninhalts (Fortführung von BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 - KZR 60/18, WuW 2020, 90 Rn. 19 - Berufungszuständigkeit II).


BGH, Beschluss vom 9. April 2024 - KZB 75/22 - OLG Düsseldorf, LG Köln


Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. April 2024 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterin Dr. Picker und den Richter Dr. Kochendörfer

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 30. November 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

Gründe:

[1] I. Die Klägerin und die Beklagten zu 3 bis 25 sind Verkehrsunternehmen, die Verkehrsleistungen im Verkehrsverbund Rhein-Sieg erbringen oder erbracht haben (Verbundverkehrsunternehmen). Der Verkehrsverbund ist ein Zweckverband der Städte Bonn, Köln, Leverkusen, Monheim am Rhein sowie weiterer Landkreise. Die Beklagte zu 1 ist mit dem Management und der Koordination des Verkehrsverbundes betraut. Dem Beirat der Beklagten zu 1, dem Beklagten zu 2, gehören die Verbundverkehrsunternehmen an.

[2] Die Klägerin schloss mit der Beklagten zu 1 - ebenso wie die übrigen beklagten Verkehrsunternehmen - einen Kooperationsvertrag. Darüber hinaus besteht zwischen den Verbundverkehrsunternehmen und der Beklagten zu 1 ein Einnahmeaufteilungsvertrag. Im April 2021 kündigte die Beklagte zu 1 gegenüber der Klägerin sowohl den Kooperationsvertrag als auch den Einnahmeaufteilungsvertrag aus wichtigem Grund. Die Bezirksregierungen Köln und Düsseldorf entzogen der Klägerin die erteilten Linienkonzessionen, woraufhin die Beklagte zu 1 erneut die Kündigung des Kooperationsvertrags erklärte.

[3] Die auf Feststellung des Fortbestands des Kooperations- und des Einnahmeaufteilungsvertrags sowie auf Ersatz von Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage hat das Landgericht Köln mit Urteil vom 5. April 2022 abgewiesen. Die dagegen beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht mit Beschluss vom 30. November 2022 als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.

[4] II. Soweit die Beklagten keine notwendigen Streitgenossen sind (§ 62 Abs. 1 ZPO), beruht der Beschluss im Hinblick auf die Beklagten zu 3 und 15, die in der mündlichen Verhandlung nicht durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten waren (§ 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO), nicht auf deren Säumnis, sondern ergeht auf Grundlage einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urteile vom 4. April 1962 - V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81; vom 31. Mai 2012 - I ZR 106/10, GRUR 2013, 176 Rn. 9 - Ferienluxuswohnung).

[5] III. Die kraft Gesetzes statthafte Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) ist zulässig und begründet, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Bundesgerichtshofs erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot), das den Gerichten verbietet, Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (BGH, Beschlüsse vom 8. März 2022 - VI ZB 25/20, NJW 2022, 1820 Rn. 6; vom 13. Juli 2022 - VII ZB 29/21, NJW-RR 2022, 1581 Rn. 12).

[6] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:

[7] Die Berufung der Klägerin sei unzulässig, weil sie nicht bei dem zuständigen Gericht eingelegt und begründet worden sei und die Klägerin daher sowohl die Berufungs- als auch die Berufungsbegründungsfrist versäumt habe. Nach § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG in Verbindung mit § 10 Nr. 3 des Gesetzes über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen sei nicht das Oberlandesgericht Düsseldorf, sondern das Oberlandesgericht Köln für Berufungen gegen Urteile des Landgerichts Köln zuständig. Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf sei nicht nach §§ 93, 87 GWB in Verbindung mit § 2 der Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30. August 2011 über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte und über die gerichtliche Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach dem Energiewirtschaftsgesetz (GV NRW, 469, KartellGBildVO NRW) eröffnet. Eine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 87 GWB liege nicht vor. Weder ergebe sich das Klagebegehren aus kartellrechtlichen Vorschriften, noch hänge die Entscheidung von kartellrechtlichen Vorfragen ab. Es sei nicht ersichtlich und von der Klägerin weder erstinstanzlich noch mit der Berufungsbegründung geltend gemacht, dass die Kündigung wegen Verstoßes gegen kartellrechtliche Vorschriften unzulässig sein könnte. Erst auf Hinweis des Gerichts und nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist habe die Klägerin vorgebracht, die Beklagten seien Normadressaten des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots und die in Rede stehenden Kündigungen verstießen gegen § 19 Abs. 1, 2 Nr. 1 GWB.

[8] Eine Verweisung an das Oberlandesgericht Köln in entsprechender Anwendung des § 281 ZPO komme nicht in Betracht. Die beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegte Berufung habe nicht die für die Berufung maßgeblichen Fristen gewahrt, weil an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts keinerlei vernünftige Zweifel bestanden hätten. Weder habe das Landgericht erkennbar als Kartellgericht entschieden, noch seien von den Parteien kartellrechtliche Normen geltend gemacht worden.

[9] 2. Diese Erwägungen verletzen das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes (s.o. Rn. 5). Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass die bei ihm eingelegte Berufung unzulässig ist, weil die Berufungs- wie auch Berufungsbegründungsfrist (§ 517, § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) durch Einreichung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsschrift beim Oberlandesgericht Düsseldorf nicht gewahrt worden sei.

[10] a) Gemäß § 91 Satz 2 GWB entscheidet der Kartellsenat beim Oberlandesgericht über Berufungen gegen Endurteile in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach § 87 GWB. § 92 Abs. 1 Satz 1, § 93 GWB ermächtigen die Landesregierungen, diese Rechtssachen einem Oberlandesgericht zuzuweisen, wenn in einem Land mehrere Oberlandesgerichte errichtet sind. Davon hat das Land Nordrhein-Westfalen Gebrauch gemacht und in § 2 KartellGBildVO NRW die Zuständigkeit für kartellrechtliche Berufungen dem Oberlandesgericht Düsseldorf zugewiesen. Das allgemein nach § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG, § 10 Nr. 3, § 21 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit der Anlage zu § 21 des Gesetzes über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 2010 (GV NRW, 30) für Berufungen gegen Endurteile des Landgerichts Köln zuständige Oberlandesgericht ist hingegen das Oberlandesgericht Köln.

[11] b) Die Klägerin konnte die Berufung fristwahrend beim Oberlandesgericht Düsseldorf als dem nach §§ 91, 92, 93, 87 GWB in Verbindung mit § 2

KartellGBildVO NRW zuständigen Kartelloberlandesgericht einlegen. Zwar war das Verfahren jedenfalls bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist keine bürgerliche Rechtstreitigkeit im Sinne des § 87 GWB (dazu aa). Es bestanden aber vernünftige Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts (dazu bb).

[12] aa) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Rechtsstreit in erster Instanz keine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 87 GWB war (dazu (1)) und das Vorbringen der Klägerin nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf nicht mehr wirksam begründen konnte (dazu (2)).

[13] (1) Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits bildeten bis zum Abschluss der ersten Instanz weder eine kartellrechtliche Hauptfrage noch eine kartellrechtliche Vorfrage im Sinne des § 87 GWB. Davon ist das Berufungsgericht zu Recht ausgegangen.

[14] (a) Die nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilende ausschließliche Zuständigkeit des Kartellsenats beim Oberlandesgericht ist gemäß § 91 Satz 2, § 87 GWB sowohl für Rechtsstreitigkeiten mit kartellrechtlicher Hauptfrage (§ 87 Satz 1 GWB) als auch für Streitsachen mit kartellrechtlicher Vorfrage (§ 87 Satz 2 GWB) gegeben. Um eine Kartellstreitsache im Sinne des § 87 Satz 1 GWB handelt es sich unter anderen dann, wenn die mit dem Klagebegehren erstrebte Rechtsfolge aus den dort genannten Normen hergeleitet werden kann (vgl. BGH GSZ, Beschluss vom 22. März 1976 - GSZ 2/75, BGHZ 67, 81, 84 - Auto-Analyzer; Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 29. Oktober 1987 - GmS-OGB 1/86, BGHZ 102, 280 [juris Rn. 13]). Eine Streitigkeit mit kartellrechtlicher Vorfrage im Sinne des § 87 Satz 2 GWB liegt vor, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von den in § 87 GWB in Bezug genommenen Vorschriften abhängt; das setzt voraus, dass der Streit nicht ohne Entscheidung der kartellrechtlichen Vorfrage spruchreif ist, also abschließend entschieden werden kann (BGH, Beschluss vom

28. Februar 1985 - I ZR 174/82, GRUR 1985, 883 [juris Rn. 14] - Abwehrblatt; BAGE 159, 316 Rn. 20; BAGE 166, 251 Rn. 13; BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 - KZR 60/18, WuW 2020, 90 Rn. 31 f. - Berufungszuständigkeit II).

[15] Für die Beurteilung der Frage, ob der Rechtsstreit die Voraussetzungen des § 87 GWB erfüllt, kommt es nicht auf die Rechtsauffassung der Parteien, sondern auf deren Sachvortrag an (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 29. Oktober 1987 - GmS-OGB 1/86, BGHZ 102, 280, 283 [juris Rn. 13]; BGH, Beschluss vom 4. April 1975 - KAR 1/75, BGHZ 64, 342 [juris Rn. 6] - Abschleppunternehmen). Die Parteien müssen für die sachlich-rechtlichen Merkmale eines aus den in § 87 GWB genannten Vorschriften hergeleiteten Anspruchs die erforderlichen Tatsachen vorbringen, aus denen zu erkennen ist, dass sie ihr Begehren auf einen solchen Sachverhalt stützen (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1960 - KZR 2/60, BGHZ 34, 53 [juris Rn. 63] - Apotheke).

[16] (b) Nach diesem Maßstab waren die Voraussetzungen des § 87 GWB nach Abschluss der ersten Instanz nicht erfüllt.

[17] (aa) Anders als das Berufungsgericht gemeint hat, kommt es allerdings nicht darauf an, dass sich eine Partei auf kartellrechtliche Normen beruft. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis aber mit Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 87 GWB nicht erfüllt sind, weil die Klägerin nicht geltend gemacht habe, die in Rede stehenden Kündigungen seien wegen Verstoßes gegen kartellrechtliche Vorschriften unzulässig gewesen. Die Rechtsbeschwerde zeigt keinen vom Berufungsgericht übergangenen Sachvortrag auf, der den Anforderungen des § 87 GWB genügte und erkennen ließe, dass die Klägerin ihr Klagebegehren auf einen Sachverhalt stützt, der kartellrechtliche Normen in entscheidungserheblicher Weise ausfüllt. Soweit sie anführt, die Klägerin habe bereits erstinstanzlich einen Missbrauch der Beklagten im Sinne des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB geltend gemacht, ergibt sich das aus dem in Bezug genommenen Vorbringen nicht.

[18] Die Rechtsbeschwerde lässt nicht erkennen, dass und aus welchen Gründen zumindest einer der Beklagten auf einem sachlich und räumlich abzugrenzenden Markt über eine marktbeherrschende Stellung verfügte und wessen Verhalten sich in welcher Hinsicht als missbräuchlich im Sinne des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB erwiese. Dafür genügt nicht die übereinstimmende Annahme der Parteien, dass die Beklagten in einem Verkehrsverbund tätig sind, der im Gebiet eines kommunalen Zweckverbandes Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs mit einem einheitlichen Verbundtarif und aufeinander abgestimmten Fahrplänen anbietet. Dieser Umstand lässt nicht erkennen, welche konkreten wirtschaftlichen Austauschbeziehungen gerade zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehen, welche konkreten sachlich und räumlich relevanten Märkte auf dieser Grundlage abzugrenzen sind und über welche Verhaltensspielräume angesichts der konkreten Wettbewerbsbedingungen die einzelnen Beklagten auf den relevanten Märkten verfügen. Ebenso wenig genügt zur Ausfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB das allgemein gehaltene Vorbringen der Klägerin, "andere Beiratsmitglieder und deren Gesellschafter" machten der Klägerin ihre Linienkonzession - bislang ohne Erfolg - streitig, und es gebe von "interessierter Seite" seit langer Zeit Bemühungen, die Einnahmen der Klägerin so zu reduzieren, dass ihr eine eigenwirtschaftliche Erbringung der Linienverkehre nicht mehr möglich sei. Dieses Vorbingen lässt nicht erkennen, inwiefern eine damit etwaig geltend gemachte Behinderung sich als Missbrauch der Beklagten als marktbeherrschende Unternehmen darstellt und weshalb das Verhalten der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Vorschrift des § 19 GWB unbillig sein soll. Die Rechtsbeschwerde zeigt Derartiges ebenfalls nicht auf. Darüber hinaus lässt auch das Vorbringen der Klägerin keine hinreichenden Anhaltspunkte erkennen, nach denen die Voraussetzungen des § 87 GWB erfüllt wären.

[19] (bb) Die Sache ist in erster Instanz auch nicht deshalb eine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 87 GWB gewesen, weil das Landgericht die Akten des vorausgegangenen einstweiligen Verfügungsverfahrens beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, aus denen sich ergibt, dass die Klägerin in jenem Verfahren vorgetragen hatte, sie werde durch die Kündigung des Kooperationsvertrags sowie des Einnahmeaufteilungsvertrags unter Verstoß gegen § 19 Abs. 2 Nr. 1, Alt. 2 GWB diskriminiert.

[20] Gibt das Gericht einem Antrag auf Beiziehung von Akten statt, wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs damit nicht ohne weiteres der gesamte Akteninhalt zum Gegenstand des Rechtsstreits, weil das mit dem im Zivilprozess geltenden Beibringungsgrundsatz nicht vereinbar wäre. Infolgedessen ist das Tatgericht nicht verpflichtet, von sich aus die Akten daraufhin zu überprüfen, ob sie Tatsachen enthalten, die einer Partei günstig sind. Aktenteile, auf die sich keine Partei erkennbar beruft, gehören folglich nicht schon zum Prozessstoff, wenn es in der Terminsniederschrift oder im Urteil heißt, eine Akte sei zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Solche Vermerke sind vielmehr grundsätzlich in dem Sinne zu verstehen, dass sie sich nur auf die Teile der Akte beziehen, die einen von den Parteien vorgetragenen Sachverhalt betreffen. Der in der Rechtsprechung anerkannte Grundsatz, dass durch die Stellung der Anträge und anschließendes Verhandeln der gesamte, bis zum Termin angefallene Akteninhalt zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist, betrifft die Hauptakten, die in der Regel das gesamte Parteivorbringen enthalten, nicht dagegen die Akten anderer Gerichtsverfahren (vgl. zum Ganzen BGH, Urteile vom 9. Juni 1994 - IX ZR 125/93, NJW 1994, 3295 [juris Rn. 21], insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 126, 217; vom 4. April 2014 - V ZR 110/13 - NJW-RR 2014, 903 Rn. 15).

[21] Danach kann die Beiziehung der Akten des einstweiligen Verfügungsverfahrens keine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 87 GWB begründen. Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass die Klägerin vor dem Landgericht auf bestimmte Ausführungen zu kartellrechtlich relevanten Umständen in den beigezogenen Akten Bezug genommen hat. Das ist auch nicht ersichtlich.

[22] (2) Ebenfalls zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, das nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO gehaltene Vorbringen der Klägerin habe die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf nicht mehr wirksam begründen können.

[23] Zwar kann wegen der materiell-rechtlichen Anknüpfung eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit auch erst in der Berufungsinstanz zu einer Kartellsache werden. Das kommt dann in Betracht, wenn kartellrechtlich relevante Gesichtspunkte im Sinne des § 87 GWB erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht werden und diese nach §§ 529, 530, 531 ZPO berücksichtigungsfähig sind (offengelassen in BGH, Urteil vom 14. Februar 1996 - VIII ZR 68/95, NJW-RR 1996, 765 [juris Rn. 11]; vgl. K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 7. Aufl., § 91 GWB Rn. 13). Hat - wie hier - der Landesgesetzgeber von der Konzentrationsermächtigung gemäß § 92 Abs. 1, § 93 GWB Gebrauch gemacht und abweichend vom regulären Instanzenzug die Zuständigkeit für Berufungen in Kartellstreitsachen einem bestimmten Oberlandesgericht ("Kartelloberlandesgericht") zugewiesen, genügt es aber für eine wirksame Einlegung der Berufung bei diesem Kartelloberlandesgericht nicht, dass der Berufungsführer erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO kartellrechtsrelevante Umstände vorbringt, die die Voraussetzungen des § 87 GWB erfüllen. Könnte in einer Sache, die in erster Instanz keine Kartellsache war und bei der auch keine vernünftigen Zweifel an der Zuständigkeit des allgemein zuständigen Oberlandesgerichts bestehen (dazu unten bb), die Berufung direkt beim Kartelloberlandesgericht eingelegt werden - was an dieser Stelle nicht abschließend entschieden werden muss -, so wäre jedenfalls zu verlangen, dass der Berufungsführer in entsprechender Anwendung des § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO spätestens mit der Berufungsbegründungsschrift die Umstände vorbringt, aus denen sich die Zuständigkeit des Kartelloberlandesgerichts ergibt. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die nach § 91 GWB beim Oberlandesgericht gebildeten Kartellsenate, bei denen sämtliche Kartellsachen konzentriert sind, die ihnen gesetzlich zugewiesene Funktion als spezialisierte Spruchkörper nicht erfüllen könnten, weil sie sich mit einer Vielzahl von Fällen zu befassen hätten, die nach Abschluss der ersten Instanz keinerlei kartellrechtliche Relevanz aufweisen und bei denen offen ist, ob sich eine solche im weiteren Verlauf des Berufungsrechtszugs überhaupt noch ergibt.

[24] Auf den nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gehaltenen Sachvortrag der Klägerin kam es daher für die Beurteilung der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf nach §§ 92, 93 GWB nicht an. Das gilt ungeachtet der Frage, ob sich aus diesem Vorbringen die Voraussetzungen des § 87 GWB mit hinreichender Deutlichkeit ergeben haben und ob dieses Vorbringen nach §§ 529, 530, 531 ZPO überhaupt zu berücksichtigen war.

[25] bb) Rechtsfehlerhaft ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, die Klägerin habe die Berufung auch nicht deshalb fristwahrend beim Oberlandesgericht Düsseldorf einlegen können, weil keine Unsicherheit über das zuständige Berufungsgericht bestanden habe.

[26] (1) Hat - wie hier - der Landesgesetzgeber von der Konzentrationsermächtigung gemäß § 92 Abs. 1, § 93 GWB Gebrauch gemacht, kann einer Partei bei Unsicherheit über das funktionell zuständige Gericht nicht zugemutet werden, zur Vermeidung der Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig Berufung sowohl bei dem allgemein zuständigen Berufungsgericht als auch bei dem nach §§ 91, 93, 92 GWB in Verbindung mit § 87 GWB zuständigen Berufungsgericht einzulegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2016 - I ZB 44/15, NJW-RR 2017, 105 Rn. 23 - Gestörter Musikvertrieb; vom 17. November 2016 - V ZB 73/16, ZWE 2017, 101 Rn. 15; Urteil vom 29. Oktober 2019 - KZR 60/18, WuW 2020, 90 Rn. 26 - Berufungszuständigkeit II). Das trägt dem Gebot der Rechtsmittelklarheit Rechnung. Daher darf die Berufung in diesen Fällen auch dann beim allgemein zuständigen Berufungsgericht eingelegt werden, wenn an der Zuständigkeit des für Kartellsachen zuständigen Oberlandesgerichts keine vernünftigen Zweifel bestehen (BGH, Urteil vom 30. Mai 1978 - KZR 12/77, BGHZ 71, 367, 374 f. - Pankreaplex I; BGH, WuW 2020, 90 Rn. 26 - Berufungszuständigkeit II). Umgekehrt kann die Berufung beim Kartelloberlandesgericht dann nicht wirksam eingelegt werden, wenn keinerlei vernünftige Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts bestehen. Denn in diesem Fall kann es mangels einschlägiger landesgesetzlicher Konzentrationsregelungen keine Unsicherheit geben (BGH, WuW 2020, 90 Rn. 26 - Berufungszuständigkeit II).

[27] (2) Ob keine vernünftigen Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts (§ 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG) bestehen, bestimmt sich nach objektiven Kriterien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Maßgeblich ist dabei die Erkenntnismöglichkeit einer verständigen Prozesspartei auf Grundlage des gesamten Akteninhalts. Darauf, ob die Partei tatsächlich Akteneinsicht genommen hat, kommt es nicht an. Eine eindeutige Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beispielsweise dann zu verneinen, wenn ein nach §§ 87, 89 GWB zuständiges Landgericht erkennbar in dieser Eigenschaft entschieden hat (BGH, WuW 2020, 90 Rn. 27 - Berufungszuständigkeit II).

[28] Auf die Maßstäbe, die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 92 GWB in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung (§ 92 GWB aF) entwickelt worden sind (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 24. Februar 1976 - KZR 15/74, GRUR 1977, 267 [juris Rn. 14 f.] - Fotokopiergerät; s.a. Urteil vom 9. November 1967 - KZR 10/66, BGHZ 49, 33 [juris Rn. 89]; näher dazu K. Schmidt in

Immenga/Mestmäcker, aaO, § 91 GWB Rn. 15), kann nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden. Die bis zum Inkrafttreten der 6. GWB-Novelle geltende Anknüpfung diente der abschließenden Bestimmung der Zuständigkeit des Kartelloberlandesgerichts anhand formeller Gesichtspunkte. Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch allein um die Frage, ob die Berufung in einer Nicht-Kartellsache unter bestimmten Bedingungen auch wirksam beim Kartelloberlandesgericht eingelegt werden kann und die Sache dann gegebenenfalls in entsprechender Anwendung des § 281 ZPO an das allgemeine Berufungsgericht zu verweisen ist (vgl. BGHZ 71, 367, 374 - Pankreaplex I; BGH, WuW 2020, 90 Rn. 19 - Berufungszuständigkeit II). Insoweit genügt es, wenn bereits ein vernünftiger Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts besteht, der sich auch aus formellen Gesichtspunkten ergeben kann.

[29] (3) Anders als das Berufungsgericht angenommen hat, konnten aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls vernünftigerweise Zweifel an der funktionellen Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts, hier des Oberlandesgerichts Köln, bestehen. Das dem vorliegenden Hauptsacheverfahren vorausgegangene einstweilige Verfügungsverfahren war ein Kartellverfahren. Die Klägerin hatte in jenem Verfahren vorgetragen, sie werde durch die Kündigung des Kooperationsvertrags sowie des Einnahmeaufteilungsvertrags unter Verstoß gegen § 19 Abs. 2 Nr. 1, Alt. 2 GWB diskriminiert. Über die Berufung im einstweiligen Verfügungsverfahren hat daher - nach Verweisung durch das OLG Köln - das OLG Düsseldorf entschieden. Auf diese Entscheidung nimmt das Landgericht umfangreich Bezug. Aus der vorliegenden Akte ergibt sich zudem, dass die laut dem Geschäftsverteilungsplan auch für Kartellsachen zuständige Kammer selbst davon ausgegangen ist, auch das Hauptverfahren sei eine Kartellsache. Die Vorsitzende hat in einer in Kopie zur Akte genommenen Verfügung aus einem weiteren Parallelverfahren ausgeführt, sowohl beim einstweiligen Verfügungsverfahren als auch beim vorliegenden Hauptsacheverfahren handele es sich um Kartellstreitsachen, weil sie die Kündigung des Kooperationsvertrags beträfen. Schließlich hat das Landgericht sein Urteil auch gemäß § 90 GWB an das Bundeskartellamt übersandt. Geht aber das zuständige Gericht selbst - wenn auch in der Sache letztlich zu Unrecht - vom Vorliegen einer Kartellsache aus, kann in der Regel nicht angenommen werden, dass für die Partei keinerlei vernünftige Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts bestehen. Dem steht nicht entgegen, dass das landgerichtliche Aktenzeichen nicht den Zusatz "Kart" aufweist oder das Landgericht ausweislich des Urteilseingangs nicht als Kartellgericht oder Kartellkammer entschieden hat. Denn eine - allerdings vor dem Hintergrund des vorliegenden Falls zukünftig wünschenswerte - einheitliche Verwendung dieser Bezeichnungen lässt die Praxis des Landgerichts nicht erkennen (vgl. einerseits: Urteile vom 1. Dezember 2016 - 90 O 57/16, NZBau 2017, 377-384; vom 4. September 2020 - 90 O 126/18, juris; andererseits: vom 18. Juni 2015 - 90 O (Kart) 142/14, juris; vom 13. Juli 2017 - 88 O (Kart) 77/14, juris).

[30] 3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann nach alledem keinen Bestand haben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Es wird zu klären haben, ob auf Grundlage des berücksichtigungsfähigen Parteivorbringens in der Berufungsinstanz die Zuständigkeit des Berufungsgerichts nach §§ 91 ff., § 87 GWB gegeben ist oder ob die Sache auf den Antrag der Klägerin in entsprechender Anwendung des § 281 ZPO an das Oberlandesgericht Köln zu verweisen ist.

Kirchhoff Roloff Tolkmitt

Picker Kochendörfer

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